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Fußball

 

Wie der gestrige Sieg des FC Liverpool unseren Blick auf den englischen Fußball verändern kann

von Dietrich Schulze-Marmeling – Der FC Liverpool hat den BVB nach einem extrem unterhaltsamen Spiel in einer begeisternden Atmosphäre besiegt. Das Spiel hat auch mit gewissen Mythen aufgeräumt, die bezüglich des Fußballs in England und der Premier League verbreitet werden.

Beginnen wir mit der Atmosphäre: Die „Süddeutsche Zeitung“ berichtet: „Es war, wie erwartet, das große Theater der Emotionen. (…) Im Stadion fand quasi ein Konzert statt. (…) Und irgendwie war es folgerichtig, dass sich dieses Spiel nicht mit einem kühlen Dortmunder Sieg zufrieden gab. (…) Die Spieler riefen, inspiriert von der flirrenden Atmosphäre, jedes Volt an Spannung ab.“

Jürgen Klopp am 25. Februar 2016; Quelle: Paul Robinson, „Juergen Klopp as manager of Liverpool FC“, CC BY-SA 2.0, https://www.flickr.com/photos/67136822@N06/24669321424/
Jürgen Klopp am 25. Februar 2016; Quelle: Paul Robinson, „Juergen Klopp as manager of Liverpool FC“, CC BY-SA 2.0, flickr

Ich hatte auf einen Dortmunder Sieg gehofft. Aber als der BVB mit 2:0 führte, wollte ich das Liverpooler Anschlusstor – der Atmosphäre wegen. Als dies erzielt war, hoffte ich auf eine schnelle Antwort des BVB, um das Weiterkommen zu sichern. Dieses kam dann auch. Nun wollte ich den erneuten Anschlusstreffer. Mein Wunsch wurde erfüllt. Was dann kam, war eine unerwünschte Zugabe. Aber nach dem tragischen Schluss war ich nicht wirklich traurig. Dieses Spiel, vor allem aber die Atmosphäre im Stadion, hatte etwas geboten, was ich kaum noch für möglich gehalten hatte. Was bei mir eine viel tiefere und nachhaltigere Trauer auslöste, als es jede BVB-Niederlage könnte. Angesichts der Entwicklung, die der Fußball nimmt: Wie häufig werden wir so etwas noch erleben? Vielleicht war dies völlig ungewollt: Aber Stimme und Stil des Sport1-Kommentators weckten Erinnerungen an den alten Europapokal – irgendwie passend zu diesem Abend.

 

Stimmung in Manchester

Man hört immer wieder, dass in den englischen Stadien die Stimmung schlechter sei als in der Bundesliga. Als Gründe werden das Verschwinden der Stehplätze und die Gentrifizierung des Publikums genannt.

Dass diese Dinge auf die Stimmung drücken, lässt sich nicht bestreiten. Aber dass die Stimmung in England generell schlechter sei als in den deutschen Stadien, wurde nicht erst am gestrigen Abend widerlegt.

Es hängt stark davon ab, wo man sich befindet. Bei Manchester United ist die Stimmung etwas enttäuschend, wobei man einen Unterschied zwischen Ober- und Unterrang machen muss. Im Oberrang sitzen die Fußballtouristen. Und wenn man nur ein- oder zweimal pro Saison ein Spiel zu sehen bekommt, macht man nicht gleich den dicken Herman. Auch dann nicht, wenn man bereits seit Urzeiten United-Fan ist. Ich hatte mal das Glück, dass ein in der Nähe von Manchester lebender Freund seine Dauerkarte für den Unterrang mit meinem elenden Thomas-Cook-Ticket tauschte. Dort musste ich die kompletten 90 Minuten stehen. Umgeben von Leuten, die permanent sangen und ihr Team anfeuerten.

Englische Sangesfreude und Ultras in Deutschland

Vor einigen Jahren besuchten wir das Nord-London-Derby Tottenham gegen Arsenal. Von der Stimmung eines der zehn besten Spiele, die ich live erlebt habe. Ein extrem enges (für meine Hüften waren die Sitzreihen eine Katastrophe) und relativ kleines Stadion, fantastische Gesänge. Vor allem: Es sang das gesamte Stadion, nicht nur irgendein Block.

Im Herbst letzten Jahres besuchten wir Everton gegen Sunderland. Eine torreiche Begegnung, die mit einem deutlichen Sieg für die „Toffees“ endete (6:3). Aber die Sunderland-Fans feuerten ihr Team bis zum Abpfiff an, waren bester Laune. Hingegen herrscht in Arsenals Emirates eine eher schwache Stimmung, was auch in der langweiligen und zu weiträumigen Architektur der Arena begründet liegt. Das alte Highbury bot mit seiner Enge und der Lage in einem Wohngebiet deutlich mehr Atmosphäre.

In Deutschland behauptet man, ohne Ultras sei nichts los. Das stimmt für einige Stadien tatsächlich. Aber in England erlebt man, dass die Stimmung ohne Ultras nicht zwangsläufig schlecht ist – keine organisierte und diktierte Stimmungsmache, mehr Spontanität und Interaktion mit dem Spielgeschehen als in manchen unserer Stadien, wunderbare Gesänge. Manchmal ist ein Ausflug auf die Insel auch eine Erholung von dem, was hierzulande unter Fankultur verstanden und praktiziert wird. Vor allem für einen Preußen-Münster-Fan. Man wünscht den Engländern, dass sie ihre Stehplätze zurückbekommen, aber von gewissen Elementen der Ultrakultur verschont bleiben.

Bitte keine modernen Arenen!

Der Stadioneingang von Anfield; Quelle: Public Domain / gemeinfrei (Autor: KV 28, https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:YNWA.jpg)
Der Stadioneingang von Anfield; Quelle: Public Domain / gemeinfrei (Autor: KV 28, https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:YNWA.jpg)

Von Vorteil ist auch, dass die englische Stadionlandschaft relativ altmodisch ist. Die Stadien von Everton, Liverpool, Tottenham etc. bilden einen starken Kontrast zu den Millionen, die in die Spielerkader investiert werden. Anfield fasst bisher nur 45.000 Zuschauer (wird z.Zt. auf 58.000 ausgebaut) und bietet wenig Komfort. Ein Stadion nur für den Fußball. Der Fanshop wirkt im Vergleich zur „Fan World“ des BVB wie ein Tante-Emma-Laden.

In Evertons Goodison Park saßen wir auf Holzbänken. Die Sicht auf das Spielfeld wurde durch Pfeiler behindert. Um ins Stadion zu gelangen, zwängten wir uns durch enge Drehkreuze. Das kulinarische Angebot war down to earth. Die Polizei trat nicht annähernd so martialisch auf, wie wir es in Deutschland schon von Drittligaspielen gewohnt sind und beschränkte sich auf die Rolle des Freundes und Helfers. Die Stimmung war bestens, es gab auch nicht den geringsten Trouble. Man schaut sich ein Spiel in der teuersten Liga an, aber manchmal ist dies wie eine Reise in eine alte Zeit. Es steht allerdings zu befürchten, dass immer mehr Vereine dem Beispiel Arsenals folgen und moderne Arenen bauen. Von Architekten, die primär auf Ästhetik und die Erhöhung der Einnahmemöglichkeiten schauen. Und nicht auf das, was der Fußballfan möchte. So hofft man, dass die Klubs weiterhin kräftig in ihre Spielerkader investieren – und nicht in den Bau neuer Arenen. Fußballstadien, das hat der gestrige Abend noch einmal gezeigt, müssen eckig sein und dürfen nicht zu groß ausfallen. Die Idealgröße ist 45.000 bis 55.000. Dies ermöglicht, dass die Stimmung im Stadion bleibt und gemeinsam gelebt wird. Sitzt man im Dortmunder Stadion auf der Geraden im Oberrang, hat man den Eindruck, die Südtribüne sei ein eigenes, vom eigenen Bereich abgekoppeltes Stadion. Man ist mehr ein Zuschauer und Konsument der Stimmung im Stadion. (Für die Stimmung war gestern auch hilfreich, dass bei einem Spiel unter der Woche die Fußballtouristen an der Anfield Road weitgehend wegbleiben.)

 

Englands leidende Nachwuchausbildung?

Mit dem neuen TV-Vertrag werden die Premier-League-Klubs über noch mehr Geld verfügen. Wir beruhigen uns damit, dass die ausländischen Besitzer der englischen Klubs nur eines können: Geld verbrennen. Dies muss aber nicht so bleiben.

Ein Problem der Engländer ist seit Jahren die Ausbildung. Was Ausbildung bewirken kann, zeigt das Beispiel Island, das in der Qualifikation zur EM in Frankreich die Niederlande und die Türkei hinter sich ließ. Island hat in den letzten Jahren enorm in die Ausbildung und Infrastruktur investiert. Das Land zählt nur 330.00 Einwohner und ca. 20.000 registrierte Kicker. Die klimatischen Voraussetzungen sind für den Fußball alles andere als ideal. Aber gemessen an der Bevölkerungsgröße hat Island sieben – bis achtmal so viele lizensierte Trainer wie das Fußball-Mutterland England.

Dies ist weniger eine Baustelle der Profiklubs als der FA. Die Profiklubs können im Prinzip sagen: Scheißegal, wir haben das Geld, um das Ausbildungsdefizit im Verband und an der Basis durch Einkäufe in anderen Ländern zu kompensieren. Und: Wer zu viel Geld hat, vernachlässigt häufig die Ausbildung und eine saubere Personalplanung. Warum ausbilden, wenn man das fertige Produkt kaufen kann?

Aber auch hier könnte sich einiges ändern. Manchester City hat seine Akademie erheblich ausgebaut und bereits 2012 mit Txiki Begiristain den ehemaligen Sportdirektor des FC Barcelona geholt. In seiner Barça-Zeit „produzierte“ die hauseigene „La Masia“ die Spieler Messi, Iniesta, Xavi, Fabrègas, Busquets, Valdes, Krkic und Piqué. Mit Begiristain angelte sich City auch Barças Ferran Soriano als neuen Hauptgeschäftsführer. Mit dem Tandem zog auch ein anders Verständnis von einem Fußballklub ein. Derweil stellt Lokalrivale United, unter Ferguson ein Leuchtturm in Sachen Ausbildung, seine Akademie auf den Prüfstand.

Guardiola ein Riesengewinn für die Premier League

Interessant auch, was in Southampton läuft. In der Saison 2013/14 wurde der FC Southampton mit dem argentinischen Trainer Mauricio Pochettino überraschend Achter in der Premier League. Sein niederländischer Nachfolger Ronald Koeman brachte die Mannschaft in der folgenden Saison noch einen Platz höher. Southampton investierte mehr Engagement in seinen Nachwuchs als einige andere Klubs der Premier League. 2013 lobte André Villas-Boas, damals Trainer bei Tottenham, Southamptons Akademie in höchsten Tönen und verglich sie mit der von Sporting Lissabon. 2015 gewannen die „Saints“ den U21-Premier-League-Cup. Im Sommer 2014 verließ Pochettino Southampton und übernahm Tottenham Hotspur, das aktuell auf Platz zwei in der Premier League liegt.

Als England Deutschland Ende März 20126 überraschend mit 3:2 besiegte, wirkten sechs Spieler mit, die irgendetwas mit Southampton oder Pochettino zu tun hatten: Dier, Rose, Alli, Kane (alle Spurs), Clyne, Lallana (Liverpool, zuvor Southampton).

Mit Guardiola wechselt nun nach Klopp der zweite Top-Trainer aus der Bundesliga in die Premier League. Und Thomas Tuchel wird vermutlich irgendwann folgen. Was diese Trainer verändern können, hat Klopp zumindest schon ansatzweise gezeigt. (Dass Klopp in England das Wort „Gegenpressing“ eingeführt hat, dokumentiert allerdings auch den taktischen Nachholbedarf – wobei: Dass es in der Premier League weniger taktisch zugeht, ist manchmal auch schön. Das Spiel Everton – Sunderland war ein wildes Hin und Her, große Unterhaltung. Dies soll zwar kein Plädoyer für diese Art von Fußball sein, aber es ist auch schön, wenn nicht alle das gleiche Spiel spielen.) In dieser Saison ist Klopps größtes Problem ist, dass er mit einem Kader arbeitet, den er nicht zusammengestellt hat und taktisch noch einiges lernen muss. Liverpool-Legende John Aldridge: „Er arbeitet mit eines andern Mannes Werkzeugen.“ Dafür hat Klopp schon viel vermitteln können und erreicht.

Dass in England nicht alles so bleiben muss, wie es ist und der deutsche Fan hofft, spricht auch Jan Kirchhoff an, seit 2016 beim FC Sunderland unter Vertrag. Beim FC Bayern wurde er von Guardiola kaum berücksichtigt. Aber von Verbitterung findet man in seinem Interview mit dem „Guardian“ nicht die geringste Spur. Kirchhoff: „Ich denke nicht, dass wir wegen unseres unglaublichen Bundestrainers Weltmeister geworden sind. Die talentierten Spieler haben all das, was sie von ihren Vereinstrainern gelernt haben, in die Nationalmannschaft gebracht. (…) Wir hatten eine Menge junger, talentierter Spieler in den besten Mannschaften. Und die hatten wirklich gute Trainer: Jürgen Klopp in Dortmund und Pep Guardiola in München. Deshalb ist die Nationalmannschaft regelrecht explodiert. Guardiola sei ein Riesengewinn für die Premier League: „Er wird die Liga verändern, wie man es noch nie gesehen hat. Er wird eines der größten Teams aufbauen, das man je gesehen hat. Man wird eine ganz andere Art von Fußball sehen.“

Auch die englische Nationalmannschaft könne von Guardiola profitieren: „Wenn er viele Engländer hat, wird England sich verbessern.“ Schon jetzt lasse sich bei den „Three Lions“ der positive Einfluss von Trainern wie Mauricio Pochettini beobachten. „Ich denke, die gesamte Liga wird sich verbessern, durch Guardiola, durch Pochettino – und durch Klopp in Liverpool.“

 

PS: Der Abend an der Anfield Road lieferte viele emotionale Momente. Für mich der bewegendste: Kenny Dalglish’s Tränen bei der Schweigeminute für die Hillsborough-Opfer und nach dem Schlusspfiff. Ich habe den Mann mit dem zerknitterten Gesicht nach der Hillsborough-Katastrophe in mein Herz geschlossen. Viele empfanden den Trainer Dalglish als zu spröde. (Schlimmer als Thomas Schaaf…) Mir gefiel das. Und wie er (und seine Frau) sich in den Tagen und Wochen um die Angehörigen der Opfer kümmerten, zeugte von einer riesigen Portion Menschlichkeit. Dass die Fans des FC Liverpool Dalglish auf Platz 1 der Liste „100 players who shook the Kop“ wählten, liegt nicht nur in seinen Erfolgen als Spieler, Spielertrainer und Trainer der „Reds“ begründet. Dalglish ist auch in der neueren „Reds“-Hymne „Fields of Anfield“ verewigt, die man gestern Abend ebenfalls wiederholt hören konnte: „All round the Fields of Anfield Road / Where once we watched King Kenny play (and he could play)….” (Die Hymne ist eine Abwandlung des in Irland und unter irischen Emigranten populären Liedes „Fields of Athenry“, das von der irischen Hungerskatastrophe in den Jahren 1846 bis 1849 handelt, die viele Iren nach Liverpool trieb.) Dass Dalglish im Frühjahr 1991 seinen Job als Trainer des FC Liverpool völlig überraschend quittierte, war auch eine Folge der Last, die er seit Hillsborough auf seinen Schultern spürte.

Ich lebte zum Zeitpunkt der Katastrophe (1989) in Nordirland. Den Tag und die Tage danach werde ich nie vergessen. Es gibt auch ein Hillsborough in Nordirland, Sitz der britischen Administration in der Provinz. Als ein Kollege meiner Frau in unser Appartement mit der Nachricht stürmte: „Viele Tote in Hillsborough!“, dachte ich zunächst an einen Anschlag der IRA. Für mich war Hillsborough der Anlass, erstmals über Fußball zu schreiben (für den „Millerntor Roar“ der St.-Pauli-Fans). Nie zuvor und nie wieder danach wurde mir so bewusst, welche Bedeutung der Fußball für eine Stadt und ihre Menschen haben kann.

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