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Fußball

 

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Dass Oliver Bierhoff das erste Opfer der hiesigen „Weg mit …“-Industrie werden würde, war zu erwarten. Bierhoff wurde noch nie gemocht. Auch nicht als Spieler. Bierhoff schoss das DFB Team 1996 zum EM-Titel, ein Volksheld wurde er trotzdem nicht. Bierhoff kam nicht aus „kleinen Verhältnissen“, besaß schon als Aktiver keinen Fußball-Stallgeruch. Sein Vater war Vorstandsmitglied bei der RWE AG. In den 1990ern war ein solcher Background noch dermaßen ungewöhnlich, dass ihn seine Mannschaftskollegen auf Grund des Status und Gehalts seines Vaters mobbten. Das Abitur hatte Bierhoff auch noch gebaut, und neben seiner Profikarriere absolvierte er ein wirtschaftswissenschaftliches Studium. Kurz und gut: Bierhoff roch nicht nach Fußball.

Als DFB-Manager wirkte er auf viele blasiert, auch störte viele sein Marketingsprech. Und nun wird es komisch. Denn Marketingsprech ist im deutschen und internationalen Fußball ja kein Alleinstellungsmerkmal des Oliver Bierhoff. Er strapaziert diesen Sprech nicht mehr und nicht weniger als Dortmunds Aki Watzke und Carsten Cramer oder Bayerns Herbert Hainer und Oliver Kahn. Was den Verdacht nährt: Die Nationalmannschaft soll erfolgreich sein, aber dabei gefälligst traditionelle Gefühle bedienen. Die Nationalmannschaft soll einfach wie früher sein. So liest mensch, die Elf möge in Zukunft doch bitte wieder in Sportschulen Quartier beziehen. Heißt: Wenn Goretzka und Co. mit ihren Klubs durch die Welt jetten, ist das Fünf-Sterne-Paradies okay. Spielen sie für Deutschland, geht’s ab in die Sportschule, denn das fördert die Leistung. Wo residieren Argentinier, Engländer, Franzosen und  Brasilianer während des Turniers?
 

1982 und 2004

Als Bierhoff seinen Job beim DFB antrat (2004), war das Image der Nationalelf nicht besser als heute. Eher schlechter. Und noch viel schlechter war es 1982, jenes Turnier, das heute, 40 Jahre später, auf die „Nacht von Sevilla“ reduziert wird. Der „Kicker“ schrieb nach der „Schande von Gijon“: „Mit üblen Beschimpfungen und Beleidigungen der eigenen Fans führten einige deutsche Profis, knapp zwei Jahrzehnte nach Einführung der Bundesliga, erstmals in geballter Form die Kehrseite ihres immer höher bezahlten Jobs vor. Arroganz und Ignoranz, Verachtung und Realitätsverlust.“

Der Unterschied zwischen 1982 und 2004: 1982 war die Nationalmannschaft noch sportlich die Nummer eins, auch wenn sie schlecht spielte. 2004 nicht mehr. 2022, wo zahlreiche ausländische Akteure die Qualität der Top-Vereinsmannschaften bestimmen, schon gar nicht mehr.

Als Bierhoff übernahm, hatte die DFB-Elf gegenüber den Großklubs an Boden verloren – nicht nur sportlich, sondern auch in Sachen Management und Vermarktung. Einige Jahre zuvor hatte Uli Hoeneß sie sogar für mehr oder weniger überflüssig erklärt. Die Spieler sollten sich nur noch anlässlich von Turnieren treffen.

Niemand weiß, wie die Sache weitergegangen wäre, hätte Deutschland nicht den Zuschlag zur Austragung der WM 2006 erhalten.

Bierhoffs „Verbrechen“ bestand darin, dass er die Vermarktung der Nationalmannschaft und die Einnahmen des DFB verbessern wollte – so wie es jeder Vereinsmanager auch tut. Der Verband und seine Auswahl konkurrierten mit den Klubs um Aufmerksamkeit und Ressourcen – und die Klubs hatten hier die Nase vorn.

Dass Bierhoff und Löw bei den Klubs nicht wohl gelitten waren, lag auch darin begründet, dass man sie als Konkurrenten betrachtete. Auch auf dem Feld des Sports. In der Vergangenheit waren es die Klubs gewesen, die Trends vorgaben. Mit Klinsmann und Löw war es nun die Nationalmannschaft, die Trainingsmethodik, Taktik etc. modernisierte, was nicht alle Klub-Bosse begeisterte. Mensch fühlte sich ein wenig vorgeführt und unter Druck gesetzt. Bierhoff entkoppelte die Nationalmannschaft vom konservativen Verbandsapparat, anders war ein Modernisierungsschub auch nicht möglich, war aber auch nicht bereit, nach der Pfeife der Manager der Großklubs zu tanzen.
 

Oliver Bierhoff
Am 5. Dezember 2022 trennten sich der DFB und Bierhoff durch die vorzeitige Auflösung seines ursprünglich bis 2024 laufenden Vertrages nach dem Vorrunden-Aus bei der WM in Katar. Foto: IMAGO / Sven Simon

 

Bundesliga und Nationalelf

Der erneute Bedeutungsverlust der Nationalelf, der nun beklagt wird,  beruht nicht nur auf sportlichen Misserfolgen. Er ist zumindest in Teilen auch das Ergebnis eines von Ergebnissen unabhängigen Prozesses: Aus dem Europapokal der Landesmeister wurde die Champions League, ein sportlich sichtbar besserer Wettbewerb als eine WM, die sich zusehends in Richtung einer Super League entwickelt. Des Weiteren entstanden in Europa Fußball-Stadtstaaten, die sich von ihren nationalen Verbänden mehr und mehr emanzipierten.

Als neuer mächtiger Mann im deutschen Fußball gilt Dortmunds Aki Watzke. Übernimmt Watzke in Sachen Nationalmannschaft mehr Verantwortung, wäre dies nur konsequent. Denn ein Bundestrainer kann nur mit Spielern arbeiten, die ihm die Bundesliga (und einige Auslandsligen) liefern. Dies sollte mensch bei einer Analyse des Scheiterns bei den vergangenen Turnieren berücksichtigen.

Als Problem wird u.a. die deutsche Abwehrreihe identifiziert. Auf transfermarkt.de werden acht Spieler des FC Bayern, zwölf des BVB, neun von RB Leipzig und elf von Eintracht Frankfurt als Außen- oder Innenverteidiger geführt. Aber nur 25% der Abwehrspieler der deutschen Champions League-Teilnehmer können für Deutschland spielen. Beim FC Bayern ist es nur einer: Josip Stanisic, der sogar aus der hauseigenen Akademie stammt, in der laufenden Saison bislang aber nur auf 144 Spielminuten kam. Zur Philosophie der Bayern gehört, dass die besten deutschen Spieler sein Trikot tragen. Gegen Costa Rica standen sieben Bayern in der Startformation. Nur einer von ihnen spielte in der Viererkette – Kimmich, der eigentlich ein „Sechser“ ist. Offensichtlich gibt es keinen deutschen Abwehrspieler, den der FC Bayern für ausreichend gut hält.

Bei Eintracht Frankfurt gibt es ebenfalls nur einen Spieler, der für die DFB-Elf spielen könnte, der 28-jährige Christopher Lenz. Beim BVB besteht das „deutsche Ensemble" aus dem 33-jährigen Mats Hummels, nicht unbedingt eine Option für 2024, geschweige denn 2026, Niklas Süle,  Nico Schlotterbeck, Nico Schulz, Marius Wolf und dem 18-jährigen Tom Rothe. Süle und Schlotterbeck waren in Katar dabei, fürs Etikett „internationale“ Klasse reicht es aber nicht. Über die anderen drei Spieler müssen wir aktuell nicht reden. Bei RB verteidigen Lukas Klostermann und David Raum.
 

Scouting statt Ausbildung?

Kommen wir zur Ausbildung: Von den sechs deutschen Abwehr-Borussen wurde nur einer beim BVB ausgebildet – aber auch nicht wirklich. Der bereits erwähnte Tom Rothe wechselte erst im A-Jugend-Alter nach Dortmund.

Der BVB hat in den letzten Jahren durch die Verpflichtung großartiger junger Spieler auf sich aufmerksam gemacht: Ousmane Dembélé, Jadon Sancho, Jude Bellingham, in dieser Saison auch noch Jamie Bynoe-Gittens. Keiner dieser Spieler ist für den DFB spielberechtigt. Dembélé wurde in Frankreich ausgebildet, Sancho und Bellingham stammen aus der Akademie von Manchester City, wie auch Jamie Bynoe-Gittens. Offensichtlich gibt es dort einen Überschuss an Talenten. Das vermeintliche Eigengewächs Giovanni Reyna kam aus der U19 des BVB, kickte für diese aber nur ein Jahr. Ausgebildet wurde er in der Akademie des New York City FC. Im Kader der Profis und der U23 stehen des Weiteren einige junge Kerle, die in der Bundesliga bislang kaum oder gar nicht zum Einsatz kamen: Etwa Abdulla Kamara und Somalia Coulibaly, beide ausgebildet bei PSG, der aus Barcas La Masia stammende Mateu Morey Bauza, Prince Aning und Jayden Braaf, beide aus der Ajax-Schule, Julian Rijkhoff, der zuvor in der U23 von Manchester City kickte. Die genannten Spieler können für Ghana, Frankreich, Spanien und die Niederlande spielen, aber nicht für Deutschland. Echte Eigengewächse wie Samuel Bamba, der bereits seit der U9 beim BVB kickt, bilden eine verschwindende Minderheit.

Das alles spricht für gutes Scouting im Nachwuchs ausländischer Akademien. Mit Ausbildung hat dies weniger zu tun. Stark vereinfacht könnte mensch konstatieren: Die ausländischen Talente sind gut, weil sie im Ausland gut ausgebildet wurden. Die deutschen Talente können häufig nicht mithalten, weil die hiesige Ausbildung mit Mängeln behaftet ist. Vielleicht tummeln sich in den NLZs zu viele Titeltrainer und zu wenige Ausbilder. Des Weiteren sei die Frage erlaubt, ob internationales Scouting die Ausbildung im eigenen Haus nicht nur ergänzt, sondern ersetzt.

Das ist keine Kritik am BVB. Aber dass die Nachwuchsarbeit des BVB einen Beitrag zur Stärkung der Nationalmannschaft leistet, lässt sich nicht behaupten. Muss sie auch nicht. Der BVB ist von seinem Selbstverständnis her ein Champions League-Verein.

Auch möchte ich mitnichten einem „deutscheren Bundesligafußball“ das Wort reden. England zeigt ja, dass ein Land trotz eines hohen Anteils an ausländischen Akteuren eine gute Nationalelf haben kann – dank einer guten Ausbildung in den Vereinen. Aber mensch sollte diese Dinge berücksichtigen, wenn wir über den Zustand der Nationalelf reden. Für die Ausbildung ist nicht nur der Verband zuständig, sondern in erster Linie die Klubs. Sie sind es, die mit den Spielern tagtäglich arbeiten.

Das Problem ist ja auch mehr, dass es den Spielern, die für Flick verfügbar wären, an Qualität mangelt. Wobei dies nicht durchgehend stimmt. Sie ballt sich in bestimmten Zonen – siehe die Diskussion um die optimale Besetzung des defensiven Mittelfelds. Ein Grund hierfür dürfte eine zu einseitige Akzentsetzung in der Ausbildung sein.
 

Die Wiederentdeckung des Dribblings und anderer Dinge

Dieses Problem ist bereits seit Jahren bekannt. Löw und Flick haben es bereits nach dem Triumph von Rio thematisiert. Damals – also 2014! – schrieb der damalige DFB-Sportdirektor Hansi Flick: „Unser Eindruck war, dass viele Spieler das Gefühl hatten, dass das System ihre Fehler auffängt. Nach dem Motto: Wenn ich den Zweikampf verliere, kann ich mich auf den Mitspieler verlassen, der hinter mir steht und das Problem löst. Wir müssen wieder eine andere Einstellung fördern, nämlich: An mir kommst du mit dem Ball nicht vorbei! Teil unserer Spielphilosophie muss sein, dass die Spieler Spaß daran haben, sich Mann gegen Mann zu messen. Genauso in der Offensive. Sie müssen das Selbstbewusstsein entwickeln, Eins-gegen-eins-Situationen anzustreben. Weil sie alle Möglichkeiten haben, vorbeizugehen, weil sie ein großes Repertoire an Finten haben, weil sie über Geschwindigkeit und technische Qualitäten verfügen. Die Qualität der Mannschaft ist immer abhängig von der individuellen Qualität der Spieler. Das beste System nützt nichts, wenn die Spieler nicht gut sind.“ Im Juni 2015 schob Flick nach: „Die Maxime ‚Abspiel geht vor Dribbling’ ist in der Nachwuchsförderung nicht zwingend richtig.“ Überspitzt gesagt müsse man den Mut entwickeln, das Individuum über das Team zu stellen. Matthias Sammer warnt: „Wer zuerst an die Mannschaft denkt, blockiert sich. Dann wird das Anderssein nicht zugelassen, und das ist falsch.“

In der Berichterstattung über die Nationalmannschaft interessierte dies kaum. Dies galt auch bezüglich der Politik der Vereine. Ausbildung, Nachwuchspolitik? Irgendwie langweilig.

In Katar war der beste Deutscher Jamal Musiala – ausgebildet in England, wo er stets ermuntert wurde, ins Dribbling zu gehen.

Im Frühjahr 2019 schrieb ich in „Ausgespielt – Die Krise des deutschen Fußballs“: „Zwar steht heute das handlungsschnelle Passen im Zentrum der fußballerischen Ausbildung, aber auch der größte Konzept- und Systemtrainer hat nichts dagegen, wenn sein bester Spieler drei Gegner umdribbelt, bevor er den Ball zu einem (dadurch frei gespielten) Mitspieler passt oder ihn selber ins Tor haut. Aber die Kultur, dies zu üben und manchmal auch zu predigen, ist etwas verschwunden. (…) Der Akademie- und Systemfußball hat Schwächen und stößt an seine Grenzen. (…)

Das Erfolgsgeheimnis von Guardiolas Barça bestand nicht nur im Passen, Passen, Passen. Barças Stärke bestand auch darin, mit Messi einen Spieler zu besitzen, der im richtigen Moment aus dem Modus des Hin- und Herpassens ausbrach, um sich stattdessen mit Tempo, enger Ballführung und ohne Scheu vor dem eins gegen eins auf die gegnerische Abwehr zu stürzen. (…)

In der Fußballausbildung haben wir es häufig mit Pendelbewegungen zu tun. Man erkennt Defizite im Passspiel, in der Taktik etc. und versucht sie abzustellen. Dass Deutschland früher besonders in taktischen und spielphilosophischen Dingen anderen Ländern hinterherhinkte, wird kaum jemand bestreiten. Dies war mit ein Grund, warum die deutsche Nationalelf und deutsche Klubs in Europa viele Jahre schwächelten. An diesem Defizit (und weiteren) wurde gearbeitet. Mit dem bekannten Ergebnis: Deutschland wurde 2006 und 2010 WM-Dritter und 2014 Weltmeister. (…)

Arbeitet man intensiv an einem Defizit, geschieht dies häufig auf Kosten eines anderen Aspekts – wodurch ein neues Defizit entsteht. So verhält es sich auch mit Passspiel und Dribbling. Ein Trainer, der das Kurzpass- und One-touch-Spiel seiner Mannschaft verbessern will, wird seine Mannschaft im Training ein bisschen beim Dribbling bremsen. Er wird das ‚individuelle Spiel‘ vernachlässigen. Wir lehren One-touch, kurze Ballhaltezeiten, den Gegner durch kurze, schnelle, präzise Pässe und Positionswechsel zu zerlegen. Und plötzlich stellen wir fest, dass es kaum noch Spieler gibt, die das ‚Eins-gegen-Eins‘ suchen und sich hier auch durchsetzen – weil wir die ganze Zeit darauf bestanden haben, sich möglichst schnell vom Ball zu trennen, den Kampf ‚Mann-gegen-Mann‘ zu vermeiden. Was nicht falsch war, zumal wir das vorher nicht konnten, aber dadurch wurde etwas anderes ungewollt diskreditiert. Etwas, das wir dringend benötigen, gerade die starken Teams, weil sich ihre Gegner hinten reinstellen. Und das kann so ziemlich jeder. (…)

Im Fußball (wie in der Schule) wird viel über die Notwendigkeit zur ‚Individualisierung‘ in der Ausbildung geredet. Damit ist kein Einzeltraining gemeint, sondern dass man jeden Spieler gesondert – eben individuell – betrachtet, um seine Qualitäten auf ihn zugeschnitten zu fördern. Die Realität ist aber eine andere. Es geht häufig primär um das Mannschaftsergebnis – nicht um die individuelle Entwicklung von Spielern. Matthias Sammer plädiert für eine Ausbildung, die ‚bis in den oberen Jugendbereich individualtaktisch geprägt ist, keinesfalls nur gruppen- oder mannschaftstaktisch. Heißt: eins gegen eins in Defensive wie Offensive. Wir müssen den Ball in den Mittelpunkt stellen, wir müssen das direkte Duell beherrschen.‘ Hansi Flick im Mai 2018: „Wir benötigen mehr Freiraum für Kreativität. Ich glaube, dass es wichtig ist, bis zu einem bestimmten Alter eher individuell als mannschaftstaktisch zu arbeiten.“

Wäre schön, würde sich die Debatte in Zukunft weniger um Personen drehen – und mehr um Inhalte und Konzepte. Also um Fußball.

 

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