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Fußball

 

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Das Schlimmste an deutschen Niederlagen ist stets der anschließende Fußball-Populismus.

Ich versuche mal, das Ausscheiden auf die Füße zu stellen. Auf Basis der Berichte seriöser Blätter („SZ“, „FR“, „TSP“, „Kicker“, „Guardian“ etc.) sowie der Zusammenfassungen in den Nachrichten. „Live“ habe ich die Spiele ja nicht gesehen. Boykott …

Ein Spiel gegen Japan, das verloren ging, aber nicht durchweg schlecht war. Bei Torschüssen, Chancen etc. war die DFB-Elf überlegen, bester Spieler auf dem Platz war Japans Keeper (laut „Kicker“-Noten – wobei ich kein Freund dieser Noten bin).

Ein Spiel gegen Spanien, das unentschieden endete und durchweg als ordentlich bis gut bewertet wurde.

Ein 4:2-Sieg gegen Costa Rica, der auch hätte höher ausfallen können. Zeitweise war es wohl Standfußball, den die Elf zelebrierte, was aber auch der Situation im Parallel-Spiel Spanien gegen Japan geschuldet war.
 

Schlechte Vorrunden gab’s auch früher schon

Die DFB-Elf hat schon schlechtere WM-Vorrunden gespielt. Nicht nur 2018. Auch 1974: Ein mühsames 1:0 gegen Chile, ein lahmes 3:0 gegen den Underdog Australien – ein Australien, das nicht das Australien von heute war. Und die DFB-Elf ging in das Turnier mit einem Heimvorteil und als Europameister! Zum Schluss der Vorrunde eine 0:1- Niederlage gegen die DDR. Vier Spiele weiter war Deutschland Weltmeister. Und niemand redete mehr über die schwache Vorrunde.

Weiter geht es mit der WM 1982. Das erste Spiel gegen den Underdog Algerien ging mit 1:2 verloren. Algerien war noch nicht das Algerien von 2014. Und die DFB-Elf reiste als Europameister an. Im zweiten Spiel wurde Chile mit 4:1 besiegt, das Finale der Vorrunde war ein mit den Österreichern abgesprochener 1:0-Sieg – die Schande von Gijon. Im Falle eines Remis wäre Algerien weiter gekommen! Vier Spiele weiter war Deutschland Vizeweltmeister. Heute redet man fast nur noch über die „Nacht von Sevilla“, das Halbfinale gegen Frankreich.

Und zum Schluss noch die WM 1986: Ein 1:1 gegen Uruguay, ein 2:1-Sieg über Schottland, eine 0:2-Niederlage gegen Dänemark – macht nach heutiger Rechnung vier Punkte, wie in Katar 2022. Mit dem Unterschied, dass diese zum Weiterkommen reichten. Am Ende wurde man erneut Vizeweltmeister.

Warum ich das hier aufführe? Weil ich mir ziemlich sicher bin, dass die DFB-Elf 2022 mindestens bis ins Viertelfinale gekommen wäre, hätte Spanien gegen Japan noch den Ausgleich erzielt. Außerdem ist eine WM keine Meisterschaft, sondern ein Turnier. In der Bundesliga kann man eine Niederlage am 1. Spieltag verschmerzen – bei einem Turnier bleibt kaum Zeit, die Dinge zu korrigieren. Bereits der zweite Schuss muss sitzen. Das bedeutet aber auch: Ein Turnier gewinnt nicht immer derjenige, der daheim alles richtig gemacht hat. Und umgekehrt: Auch wenn daheim einiges schiefläuft und das Team eher mittelprächtig ist, kann es bei einem Turnier reüssieren. Dank machbarer Gegner in der K.-o.-Phase, eines starken Teamgeists, etwas Glück etc. – siehe 2002, wo man dem DFB bestenfalls das Viertelfinale zutraute, aber am Ende stand die Mannschaft im Finale und hätte das auch gewinnen können. Dort lieferte sie ihr bestes Spiel ab.
 

Deutschland Vorrunden-Aus
Das zweite WM-Vorrundenaus in Folge, trotz deutlich besserer Auftritte als in Russland. Foto: IMAGO / Moritz Müller

 

Glück, Pech, Zufall

Dass wir dazu neigen, Spiele von ihrem Ende (bzw. Ergebnis) her zu erzählen, obwohl hier Glück, Pech, Zufall eine sehr große Rolle spielen, wie Marco Bode und ich in unserem Buch „Tradition schießt keine Tore“ versucht haben zu erklären, ist nichts Neues. Was die WM 2022 angeht, neigen wir nun dazu, uns bei der Bewertung eines Spiels vom Ergebnis eines ganz anderen Spiels beeinflussen zu lassen – dem Spiel der Spanier gegen Japan. Hätte die DFB-Elf die Vorrunde überstanden, dank eines Remis zwischen Spanien und Japan, würden wir das Spiel gegen Costa Rica anders bewerten, deutlich weniger negativ.

Die gesamte Erzählung würde dann völlig anders klingen: Super, wie die Mannschaft zunächst gegen Spanien und nun auch gegen Costa Rica mit einem Rückstand fertig wurde! Der Bundestrainer: Hatte bei seinen Einwechselungen gegen Spanien ein goldenes Händchen (Sané, Füllkrug, Klostermann) und nun gegen Costa Rica ebenfalls (Havertz, Füllkrug)! Die Mannschaft ist nun auf dem richtigen Weg, sie ist im Turnier angekommen! Flicks taktische Fehler sowie sein Festhalten an Thomas Müller wären kaum ein Thema gewesen.

Vermutlich hätte die Mannschaft aus den beiden Begegnungen mit Spanien und Costa Rica tatsächlich viel Kraft gezogen.
 

Keine neuen Probleme

Warum mich das Ausscheiden nicht empört? Erstens: Die Spieler sind mir gegenüber zu nichts verpflichtet. Zweitens: Ich werde als Deutscher dadurch nicht kleiner. Drittens: Ich meide Boulevardmedien. Viertens: Es ist nur ein Turnier – keine Meisterschaft. Fünftens: Ich bin nicht überrascht. Ich habe schon den Hype um 2014 nicht geteilt. Und vorausgesagt, dass wir in den kommenden Jahren Probleme bekommen würden. Alles nachzulesen in „Ausgespielt?“.

Über das 7:1 gegen Brasilien wurde vergessen, dass „wir“ im Achtelfinale gegen Algerien am Rande des Ausscheidens waren. (Ein solches Spiel hatte im Übrigen noch fast jeder Weltmeister. Spanien, Weltmeister 2010, verlor sein erstes Gruppenspiel gegen die Schweiz mit 0:1, schlug dann den Underdog Honduras mit 2:0 und gewann gegen Chile knapp mit 2:1 – berauschend war das nicht.) Und im Finale hatte die DFB-Elf auch etwas Glück. Die Mannschaft war schon damals nicht optimal besetzt und ausgewogen. Hinten links spielte ein Innenverteidiger, links offensiv ein Zehner, rechts hinten ein Spieler, der auf der „Sechs“ noch besser war. (Der Philipp Lahm von heute heißt Josua Kimmich.) Und vorne stand auch schon damals kein klassischer Mittelstürmer – das war Klose nicht, und er war zum Zeitpunkt des Turniers bereits 36! Deutschland musste mit einer 36-jährigen Sturmspitze spielen! Und: In der Spitze war der Weltmeister besser als das Team von 2022, in der Breite eher schlechter.

Joachim Löw hat damals diese Probleme exzellent gemanagt und verstanden, sie durch eine kluge Taktik zu kaschieren. Das Grundproblem eines Bundestrainers: Hat er personelle Sorgen, fehlen ihm beispielsweise spielerisch starke und schnelle Außenverteidiger, kann er das nicht dadurch lösen, dass er im Ausland einkaufen geht. Er muss Spieler positionell umschulen – ohne dafür die Zeit eines Vereinstrainers zu besitzen.
 

Was folgt?

Der DFB muss jetzt auch nicht wegen maximal 180 Minuten Nettospielzeit jeden Stein umdrehen. Einige Steine wurden ja bereits umgedreht, auch in der Ausbildung. Wobei wir über die Ergebnisse streiten können – beispielsweise über die überarbeiteten Trainer-Lizenzen.

Katar 2022 ist nur ein weiteres Kapitel in einer Entwicklung, die sich bereits 2014 abzeichnete. Vielleicht ist es aber auch das letzte. Hinzu kommt, dass Flick vor dem nächsten Turnier den Generationswechsel forcieren muss. Was Löw, wir erinnern uns, nach 2018 bereits versuchte. Begleitet von einem lauten Aufschrei. Thomas Müller wurde dann zurückgeholt – und spielte eine schwache EM und nun eine schwache WM. Dazu auf einer Position, die nicht seine ist. Aber was will das Fußball-Volk?

Noch etwas zum Bundestrainer, der in den Himmel gelobt wurde, als Löw „endlich weg“ war. Und nun? Wird mehr oder weniger unverhohlen sein Rücktritt gefordert. Flick war nie ein Löw, dessen Niveau erreichte er nicht. Und Löw war nie so schlecht, wie er gemacht wurde. Bei Weitem nicht. Er hatte viele richtige Ideen, von denen einige auf das Konstrukt Nationalmannschaft nur schwer anwendbar waren. Als die Qualität des Personals nachließ und wenig nachkam, jedenfalls auf einigen Positionen, wurde es schwierig, die Nationalmannschaft so zu führen, als wäre sie eine Vereinsmannschaft. By the way: Die Probleme, die jetzt auch in der letzten Ecke des Fußball-Diskurses angekommen sind, hatte Löw früh erkannt. Nur hören wollte sie niemand.

 

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