Direkt zum Inhalt
Fußball

 

ball

In den letzten Wochen hat die Forderung nach einem Boykott der WM in Katar einen ordentlichen Drive bekommen. Manche Einwände gegen eine Boykott-Bewegung übertreiben den „demokratisierenden“ Charakter von sportlichen Großveranstaltungen. Problematisch ist aber vor allem: Sie gehen mit einer Relativierung der Menschenrechte einher und laufen Gefahr, in Lobbyismus für Austragungsländer und die FIFA abzurutschen.
(Von Bernd-M. Beyer und mir)

 

Die Frankfurter Rundschau (Ausgabe vom 24. März 2022) berichtete von einem virtuellen Pressegespräch des Vereins Frankfurter Sportpresse mit Sylvia Schenk.

Sylvia Schenk ist eine ehemalige Leichtathletin. Von 2001 bis 2004 saß sie dem Bund Deutscher Radfahrer vor, seit 2014 leitet sie bei Transparency International Deutschland die Arbeitsgruppe Sport. Von 2007 bis 2010 war Schenk Vorsitzende der Organisation. Unsereins ist die Juristin auch als mutige und entschlossene Kämpferin gegen das Doping in Erinnerung.

Der Artikel – Überschrift: „Erhellende Zwischentöne“ – drehte sich vor allem um Schenks Ablehnung eines Boykotts der WM in Katar. Ihre Ausführungen sind exemplarische für den Kurs, mit dem die Auseinandersetzung mit der Kampagne geführt wird. Deshalb die folgenden Anmerkungen.

Dass Schenk einen Boykott ablehnt, ist erst einmal in Ordnung. Mensch kann trotzdem eine kritische Haltung gegenüber den Verhältnissen im Austragungsland einnehmen. Aktuell geht die Kritik am Boykott aber häufig mit einer Beschönigung der Verhältnisse in Katar und Relativierung der Bedeutung von Menschenrechten einher. Geht es nicht auch anders?

Laut Schenk bringt ein Boykott „kein Licht ins Dunkel der Menschenrechtsverletzungen“. Klingt poetisch, ist aber blanker Unsinn. Wer Boykott ruft, muss erklären, warum er das tut, muss über die Verhältnisse im Austragungsland aufklären. Und bringt dadurch reichlich Licht ins Dunkel der Menschenrechte.

Hätte Sylvia Schenk über das Thema Katar geredet, hätten die teilnehmenden Journalisten mit ihr ausführlich darüber diskutiert, wenn nicht in den letzten Wochen die Forderung nach einem Boykott leichte Wellen geschlagen hätte? Die Frankfurter Rundschau schreibt jedenfalls: „Natürlich kommt Schenk in ihrem Vortrag auch irgendwann auch zum Thema Fußball-WM 2022 in Katar, auch die anschließende Diskussion mit mehr als zwei Dutzend Journalisten aus ganz Deutschland dreht sich darum. Mit Hinweis auf die Menschenrechtsverletzungen am Persischen Golf hatte es zuletzt ja immer lauter werdende Boykottforderungen für das Turnier gegeben.“
 

boykottiert
Dass Fußball-Weltmeisterschaften unter merkwürdigen Umständen vergeben werden, ist keine Neuigkeit – hier sei nur an die „Vorgänge“ um das deutsche „Sommermärchen“ 2006 erinnert. Aber als der Fußball-Weltverband FIFA die WM 2022 ins kleine, reiche Emirat Katar vergab,verstanden auch die skandalresistentesten Fußballfans die Welt nicht mehr. In „Boykottiert Katar!“ fasst das Autorenduo Beyer/Schulze-Marmeling – anderthalb Jahre vor Start der Wüsten-WM – die Katar-Kontroverse kompakt zusammen und beleuchtet auch bis dato weniger bekannte Aspekte. Für alle, die ab jetzt mitreden wollen.

Ein „rückständiges Land“?

Laut Schenk ist Katar noch ein „rückständiges Land“. Eine nette Beschreibung für die dortigen Verhältnisse. Bei „rückständig“ assoziieren wir einen Bauern aus dem tiefsten Niederbayern (sorry!) ohne Internetanschluss – nicht ein Regime, das Homosexualität mit bis zu fünf Jahren Haft und Peitschenhieben bestraft, das vergewaltigte Frauen des Ehebruchs anklagt, das islamistischen und judenfeindlichen Terror finanziert, in dem der Wechsel der Religion ein Kapitalverbrechen ist, das in seinen Schulbüchern Antisemitismus verbreitet, das Exporteur einer extrem reaktionären Interpretation des Islams ist.

Okay – Sylvia Schenk meint: „Ein rückständiges Land aus europäischer Perspektive.“ Was soll das denn heißen? Dass die Menschenrechte für weiße Europäer reserviert sind? Dass wir es mit den Menschenrechten übertreiben? Klingt stark nach „Kalle“ Rummenigge, der die Menschenrechtsverletzungen in Katar mit einem Verweis auf die „andere Kultur und Religion“ des Landes abhakt. Der Verweis auf die „europäische Perspektive“ wird auch von den Herrschenden in diesen Ländern gerne strapaziert. Müssen wir da mitmachen? Wir dachten: Die Menschenrechte sind unteilbar. Und wir dachten: Menschenrechte sollten wir nicht relativieren. Oder doch? Sollen wir die diktatorischen Verhältnisse in der VR China also nicht kritisieren, weil das Land über keine demokratische „Kultur und Tradition“ verfügt? Oder, auf uns Deutsche selbst bezogen: Sollen wir zum Antisemitismus im Land schweigen, weil er hier nun mal eine jahrhundertealte Tradition und auch religiöse Wurzeln hat?

Sylvia Schenk fordert, sich „freizumachen von Einzelfällen“. Was heiß das? Der Fußballer, dem jahrelang die Ausreise verweigert wird wie dem Franzosen Zahir Belouni – kein Thema? Der Student, der wegen eines blasphemischen Gedichts bzw. einer „Beleidigung des Emirs“ zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteil wird – kein Thema? Die „Einzelfälle“ wird so viel Anteilnahme aus Europa freuen. Möchte Sylvia Schenk, dass wir das mit den Menschenrechten nicht so eng sehen?

Natürlich ist es richtig, dass es überall auf der Welt, auch in den relativ demokratischsten Gesellschaften, Diskriminierungen gibt, sicher auch „Einzelfälle“ von staatlicher Willkür. Aber die Frage ist doch, ob es sich dabei um ein staatlich legitimiertes oder gar staatlich betriebenes System der Diskriminierung und Unterdrückung handelt oder nicht. In Katar ist es eindeutig. Viele der Menschenrechtsverletzungen sind sogar gesetzlich fixiert, wie das Verbot von Homosexualität.
 

6.500 Tote sind zu interpretieren

Sylvia Schenk arbeitet sich an einer Meldung des Guardian ab, die in der Tat nicht nur die WM-Baustellen betraf. Was dann aber folgt, grenzt an Zynismus. Sylvia Schenk fehlen die Hintergründe zum Tod der 6.500. Leider spricht sie nicht darüber, warum dies so ist. Nämlich mangelhafte Transparenz, eigentlich Schenks Thema. Nicholas McGeehan, Direktor der Menschenrechtsorganisation Faire Square und zuvor bei Human Rights Watch für die Golf-Region verantwortlich: „Katar hat seit 2012 keine Statistiken mehr über die Zahl toter Arbeiter veröffentlicht.“ Die Zahl der ungeklärten Todesfälle mache etwa 75 Prozent aller Toten aus. McGeehan weiter: „Die katarischen Totenscheine listen die Todesursache meist als ‚natürliche Ursachen‘ oder ‚Herzstillstand‘ auf, was keine Todesursachen sind. Und wenn ein Tod ungeklärt ist, gibt es keine Entschädigung und keine Antworten für die Familien – weder eine Autopsie noch eine Untersuchung. Sie geben die Statistiken nicht heraus, weil sie wissen, was die Statistiken sagen.“

Natürlich ist es notwendig und richtig, Meldungen zu überprüfen und gegebenenfalls richtigzustellen. (Wobei zur Wahrheit auch gehört: Die Zahl, die der Guardian nennt, ist nach seinen eigenen Angaben noch zu niedrig, weil er nicht in allen Herkunftsländern Statistiken auswerten konnte.) Aber so, wie die Zweifel hier formuliert werden, relativieren sie die elenden Arbeitsbedingungen und die menschenunwürdigen Unterkünfte, die ganz zwangsläufig zu hohen Todesraten führen.

Noch wichtiger ist: Dass sich die Diskussion aktuell auf die WM-Baustellen fokussiert, wo lediglich zwei Prozent der Arbeitsmigrant*innen beschäftigt sind, ist von der FIFA durchaus gewollt. Mag sein, dass sich dort die Bedingungen für die Arbeiter verbessert haben. Es gibt diesbezüglich unterschiedliche Berichte. Amnesty International meldete vor einigen Tagen, Katar habe zwar in den letzten Jahren eine Reihe positiver Reformen durchgeführt, zum Teil als Reaktion auf die verstärkte Kontrolle nach der Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaft – „aber zu oft werden diese nicht richtig umgesetzt. Tausende von Arbeitsmigranten werden weiterhin ausgebeutet und missbraucht. Die Vorschläge, die von Katars beratendem Shura-Rat debattiert würden, würden „einen Großteil des Fortschritts, den die Reformen gebracht haben, wieder zunichte machen, unter anderem durch die erneute Einschränkung der Rechte, den Arbeitsplatz zu wechseln und das Land zu verlassen“.

Eine Verbesserung der Situation auf den WM-Baustellen sollte nicht schwierig sein. Allerdings hat sich die FIFA diesen erst gewidmet, nachdem einige NGOs entsprechenden Druck ausübten. Wir gehen davon aus, dass ein wesentlicher Teil der Bauarbeiten bereits abgeschlossen ist. Für die FIFA dürfte die Angelegenheit damit erledigt sein.
 

Die schöne Fassade zählt

Im „Bekenntnis der FIFA zu den Menschenrechten“ vom Mai 2017 heißt es: „Die FIFA ist zudem bestrebt, negative Auswirkungen auf die Menschenrechte, die über ihre Geschäftsbeziehungen einen direkten Bezug zu ihren Tätigkeiten, Produkten oder Dienstleistungen haben, zu vermeiden oder einzudämmen.“ Daraus erklärt sich die Fixierung des FIFA-„Dialogs“ auf die WM-Baustellen: Nur dort, wo die FIFA durch die WM-Vergabe unmittelbarer Auslöser für Menschenrechtsverletzungen ist, sieht sie sich (wenn überhaupt) gefordert. Alles andere interessiert sie nicht.

Das ist die Sichtweise des ignoranten europäischen Urlaubers, eine „Politik der Ferienanlage“: Mich soll lediglich interessieren, ob mein Ferienhäuschen sauber gebaut wurde und ob ich mich für die Dauer meines Aufenthalts einigermaßen frei bewegen kann. Also beispielsweise im Stadion die Regenbogenfahne schwingen darf, was während der WM angeblich erlaubt sein soll. Dass die weitaus meisten Arbeitsmigrant*innen weiterhin in sklavenähnlichen Verhältnissen schuften, dass die Repression gegen Schwule und Lesben weitergeht, hat mich nicht zu interessieren. Ich soll nur die freundliche Fassade sehen, die das katarische Regime vier Wochen lang seinem Land verordnet.

Die Art und Weise, wie die FIFA ihr „Bekenntnis zu den Menschenrechten“ abgefasst hat, bedeutet letztlich, dass sie mit jeder Diktatur ins Geschäft kommen kann. Solange diese zu gewissen Kompromissen während der Veranstaltung bereit ist. Das gelang 1936 sogar den Nazis. Unsere Sichtweise muss über den unmittelbaren Kontext des WM-Turniers hinausgehen. Auch zeitlich sind Menschenrechte unteilbar. Eine Diktatur, die lediglich für vier Wochen ein freundliches Gesicht zeigt, bleibt eine Diktatur und sollte kein WM-Gastgeber sein.
 

Sturm säen …

Ein Wort noch zu dem Argument, ein Boykott der WM gefährde die Möglichkeit, in einem problematischen Gastgeberland Gutes zu erreichen. Weil die internationale Aufmerksamkeit dorthin gelenkt wird. Mal abgesehen davon, dass dies historisch – von Berlin 1936 bis Russland 2018 – noch niemals gelungen ist. Aber es steckt auch eine seltsame Logik darin. Denn dann wäre es nur folgerichtig, solche großen Turniere nicht in ausgewiesenen Demokratien stattfinden zu lassen, sondern in Diktaturen. Denn sonst werden die dort unterdrückten Menschen im Stich gelassen. So gesehen, wäre die Entscheidung pro Katar also genau die richtige. Und in nicht zu ferner Zukunft sollte auch Nordkorea an der Reihe sein.

Unsere Logik ist eine andere: Der kleine Sturm, den die Boykott-Forderung ausgelöst hat, hat schon jetzt etwas „Licht ins Dunkel der Menschenrechtsverletzungen“ gebracht. Nach jahrelangem Schweigen redet mensch darüber, jedenfalls deutlich mehr, als in den Jahren zuvor. Dass Norwegens Nationalmannschaft und die DFB-Elf ihre WM-Qualifikationsspiele für ein Bekenntnis zu den Menschenrechten nutzen, war sicherlich kein Zufall, sondern auch der Boykott-Debatte der letzten Wochen geschuldet.

Wie gesagt: Es ist völlig in Ordnung, wenn mensch die Methode des Boykotts ablehnt – nur sollte dabei niemand in eine Beschönigung der Verhältnisse in Katar und in eine Relativierung der Bedeutung von Menschenrechten abrutschen. So macht mensch sich ungewollt zum Lobbyisten von Potentaten und der FIFA. Und bei Zahlenspielen, wie sie kürzlich in der Zeit bezüglich der Einordnung der Zahl der verstorbenen Arbeitsmigrant*innen betrieben wurden, sollten wir nicht vergessen, dass „Menschenrechte selbstverständlich mehr als mathematische Gleichungen mit Todeszahlen bedeuten. Für Homosexuelle zum Beispiel ist die Situation in einem Land wie Katar nach wie vor verheerend.“ (Jakob Böllhoff in der Frankfurter Rundschau).

Sylvia Schenk möchte, dass wir die Strahlkraft des Sports nutzen, um auf Missstände aufmerksam zu machen. Nichts anderes tun wir. Sylvia Schenk hat bei ihrem Pressegespräch diese Möglichkeit verpasst.

 

TAGS