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Irgendwie lässt mich der Abstieg der Traditionsvereine nicht in Ruhe. Im Falle von Werder auch, weil man Verein und Stadt immer sympathisch fand. Man entwickelte Sympathien für Werder, als Rehhagels Mannschaften die Bayern ärgerten. Ich weiß noch heute, wo ich am 33. Spieltag der Saison 1985/86 war, als Michael Kutzop im Weserstadion in der 88. Minute gegen die Bayern vom Elfmeterpunkt nur den rechten Pfosten traf – in der Mansardenwohnung eines Freundes in Münsters Kanalstraße. Er beinharter Preußen-Münster-Fan, ich BVB. Gefrustet waren wir beide.

1988 wurde der „ewige Vize“ Werder dann doch noch Meister, 1993 ein weiteres Mal. Und in der Saison 1994/95 wurde Rehhagels Truppe am letzten Spieltag noch von Borussia Dortmund abgefangen. Der BVB war nun der neue Herausforderer der Bayern.

Rehhagel ging zu den Bayern. Seine Nachfolger an der Weser hießen Aad de Mos, Wolfgang Sidka, Hans-Jürgen Dörner und Felix Magath – vier Trainer in vier Jahren, heute nennt man so etwas „Hamburger Verhältnisse“.
 

Das Double von der Weser

Erst mit Thomas Schaaf kam wieder Stabilität in Klub und Mannschaft. Schaaf blieb bis zum Sommer 2013 und gewann 2004 das „Double“ mit Werder – ein Fußballmärchen, auch weil es in den Jahren zuvor in Bremen nur noch für gehobenes Mittelmaß gereicht hatte. Damals war die Liga noch eine der großen Traditionsvereine. Folglich stiegen auch drei von ihnen ab: Eintracht Frankfurt, 1860 München und der 1. FC Köln. Viertletzter war der 1. FC Kaiserslautern.

Auf Schaaf folgte mit Robin Dutt eine „externe Lösung“. 2013/14 wurde Werder nur Zwölfter, und in der folgenden Saison zog der Verein nach neun Ligaspielen ohne Sieg die Reißleine, setzte auf dem Trainerposten fortan auf Kandidaten, die aus dem eigenen Stall kamen: Dutts Nachfolger wurde der Ukrainer Viktor Skripnik, der acht Jahre für Werder gespielt und anschließend die Werder-Jugend und die „Zweite“ des Vereins betreut hatte. Auf Skripnik folgten als Werder-Cheftrainer Alexander Nouri und Florian Kohfeldt, die ebenfalls zuvor Übungsleiter der U23 des Klubs gewesen waren. Man muss das hier noch einmal referieren, um Werder und die handelnden Personen des Vereins besser verstehen zu können.

Heute wird nun ein Aufbrechen der „Werder-Familie“ gefordert. Werder, heißt es, benötige externen Input. Das ist nicht falsch. Aber man kann auch nicht sagen, dass Werder in der Vergangenheit mit externen Lösungen stets gut gefahren ist; mit internen allerdings auch nicht durchgehend.

Personalentscheidungen sind vielleicht das schwierigste im Fußball. Christian Heidel etwa gilt als Mitschuldiger für den Niedergang des FC Schalke 04. Beim FSV Mainz 05 war Heidel ein exzellenter Manager. Und ist dies nun wieder. Die 05er stiegen in jener Saison auf, als Werder das „Double“ holte. Von den seither 17 absolvierten Spielzeiten war der Klub in 15 erstklassig, seit 2009/10 ununterbrochen. Trainer wie Jürgen Klopp, Thomas Tuchel und nun Bo Svensson haben ihre Karriere auch Christian Heidel zu verdanken. Der zählt zu den vier, fünf erfolgreichsten Bundesligamanagern der letzten 20 Jahre – gemessen an den Herausforderungen, die er mit Mainz zu bewältigen hatte. Schalke und Hamburg sind Vereine, die Trainer und Manager aus ihren Biographien streichen dürfen.

Heidel war einfach der falsche Mann für Schalke. Vielleicht hätte er in Freiburg oder Mainz hervorragend funktioniert. Oder auch in Bremen. Fußballvereine sind eben doch ganz besondere Unternehmen.
 

Der Profifußball und seine Standorte

In der kommenden Saison ist die 2. Liga eine Super League. Oder wie es einer meine Söhne – Jahrgang 1989 – formulierte, als auch noch der Abstieg der Kölner drohte: „Die 2. Liga ist die 1. Liga, wie ich sie aus meiner Kindheit kenne …“ Fehlen nur noch Kaiserslautern und 1860 München, die heute in der 3. Liga spielen. Wo den Lauterern der Klassenerhalt erst am vorletzten Spieltag gelang.

Ein Blick auf die Demographie der 1. und 2. Liga: Es gibt in Deutschland 14 Städte mit 500.000 und mehr Einwohnern. Zählen wir noch Duisburg hinzu, wo gut 498.000 leben, sind es 15 Städte. Nur sieben davon hatten in der Saison 2021/22 (mindestens) ein Team in der 1. Liga: Berlin, München, Köln, Frankfurt, Leipzig, Dortmund und Stuttgart. Zwei der acht Vereine – Hertha BSC und der 1. FC Köln – waren in der abgeschlossenen Saison vom Abstieg bedroht. Köln rettete sich erst in der Relegation, Hertha trennten nur zwei Punkte vom Relegationsplatz. Die Stadtstaaten Hamburg und Bremen sind raus, die großen Landeshauptstädte Düsseldorf und Hannover ebenfalls. Für acht der 15 größten Städte reicht es nur zur 2., 3. oder gar 4. Liga: Hamburg, Düsseldorf, Bremen, Dresden, Nürnberg und Hannover kicken zweitklassig, Duisburg drittklassig, Essen sogar nur viertklassig.

Von den 18 Erstligisten kommen acht aus Städten mit weniger als 300.000 Einwohnern. 1. und 2. Liga addiert sind es 15. Neun Standorte zählen sogar weniger als 200.000 Einwohner.

Die Größe des Standorts spielt also nur eine eingeschränkte Rolle bezüglich des Status‘ eines Profiklubs. Tradition – bzw. Erfolge aus der Vergangenheit – ebenfalls. Bei drei der neun Klubs aus Städten mit weniger als 200.000 Einwohnern – nämlich Leverkusen, Wolfsburg und Hoffenheim – ist die 50+1-Regel de facto außer Kraft gesetzt, was sicherlich ein Grund für deren Zugehörigkeit zur 1. Bundesliga ist.

Dass sich auf der „großen Bühne“ auch kleinere Darsteller tummeln, ist indes nicht neu. Das hat es auch in der Vergangenheit gegeben. Dank der Unterstützung durch einen Industriebetrieb oder einen Mäzen fanden sich solche Vereine schon in den alten Oberligen (im Westen z.B. SpVgg Erkenschwick). Und heute? Dank Mobilität und Marktbrücken wie TV-Rechte und Merchandising ist die Größe der Stadt, in der das Stadion steht, nicht mehr so wichtig. Außerdem repräsentieren kleinere Vereine in der Regel nicht nur eine Stadt, sondern eine Region.
 

„Jeder Nachteil hat einen Vorteil“

Die Größe des Standorts ist aber auch deshalb nur von eingeschränkter Bedeutung, weil große Klubs aus großen Standorten aus ihren Vorteilen häufig wenig machen. Und nicht so große Klubs aus nicht so großen Standorten nach dem Cruyff’schen Motto verfahren: „Jeder Nachteil hat einen Vorteil.“

Aber was macht Klubs wie Freiburg, Mainz, Augsburg, Kiel, Fürth und andere stark?

Erstens: Keiner dieser Klubs verfolgt(e) die (übertriebene) Idee, mit den Bayern und Dortmund auf Augenhöhe sein zu wollen. Dies gilt auch für Hoffenheim, wo Dietmar Hopp ja solches unterstellt wurde.

Zweitens: Diese Klubs wussten schon immer, dass die 1. Liga für sie alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist. Dass sie mit deutlich weniger Mitteln anders und besser arbeiten müssen als die Großen und Etablierten. Und dass sie trotzdem mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nie um die Deutsche Meisterschaft spielen werden. Aber dies erwartet auch niemand von ihnen. Der Druck der Mitglieder und Fans ist geringer als z. B. „auf Schalke“. Die Verantwortlichen und Spieler können „angstfreier“ agieren. (Die grassierende Angst im Profifußball – ein eigenes Thema.)

Drittens: Diese Klubs plagt keine rumreiche Vergangenheit. Fürth war zwar dreimal Deutscher Meister. Das letzte Mal allerdings 1929, also viele Jahre vor Einführung der Bundesliga. In Fürth fordert niemand: „Wir müssen wieder dorthin kommen, wo wir 1929 waren!“ Freiburg hat schon in den 1990er-Jahren eindrucksvoll demonstriert, dass sich erstklassiger Fußball auch an Orten inszenieren lässt, die der Fußballfan nicht zu den Hochburgen des Spiels zählt. Obwohl der FC Freiburg, Lokalrivale des Sportclubs, schon mal Deutscher Meister war – 1907 …

Viertens: Die Politik der Klubs wird durch eine realistische Einschätzung von der Entwicklung der Kräfteverhältnisse im nationalen und internationalen Fußball geprägt. Weshalb sie ein sportlicher Durchhänger oder gar ein Abstieg nicht gleich aus der Bahn wirft.
 

Wie alles anfing

Die meisten dieser Klubs begreifen sich als „Ausbildungsvereine“. Eine gute Nachwuchsarbeit ist ihnen sehr wichtig. Was nicht bedeutet, dass die komplette 1. Mannschaft schon als Junioren für den Klub gespielt haben muss. Existiert ein Mangel an Perspektive, muss man die Qualität hinzukaufen. Auch eine exzellente Nachwuchsarbeit ist vor Dellen nicht gefeit. Beim Hinzukaufen ist man auf ein sehr gutes Scouting angewiesen, denn Fehleinkäufe kommen diese Klubs teurer zu stehen als dem FC Bayern. Der ideale Trainer ist für diese Klubs einer, der sich als Entwickler versteht und innovativ ist. Letzteres auch bezüglich der Spielweise – siehe Volker Finke beim SC Freiburg, siehe Thomas Tuchel bei Mainz 05. Zwei Trainer, die enorm mutig waren und individuell besser bestückte Gegner vor taktische Probleme stellten.

Nebenbei bemerkt: Der Begriff „Ausbildungsverein“ wird heute etwas inflationär strapaziert. Manchmal hat man den Eindruck: Bis auf die Bayern ist jeder ein „Ausbildungsverein“.

Fußball ist aber auch ein Spielfeld für Realitätsverweigerer. Diese gibt es im engeren Umfeld eines Klubs, unter seinen Fans und auch bei einigen Medien, die die Fallhöhe hochsetzen. Realistisch betrachtet wird Werder Bremen nie wieder Deutscher Meister werden. Es sei denn, es kommt zu einer einschneidend neuen Verteilung der TV-Gelder. Oder ein milliardenschwerer Investor entdeckt die Grün-Weißen (verbunden mit der Abschaffung von 50+1), während zeitgleich der FC Bayern und Borussia Dortmund die Liga in Richtung einer europäischen Super League verlassen. Trotzdem verwundert es mich, dass es in Bremen Leute gibt, die Werder wieder in der Champions League sehen wollen.

Werders Probleme begannen spätestens mit der Saison 2010/11. Der Verein ging mit einem Kader in den Wettbewerb, der nach einem der vorderen Plätze in der Liga klang: Wiese, Mertesacker, Naldo, Arnautovic, Pizarro, Frings, Hunt, Silvestre, Fritz, Wagner, Marin, Almeida, Bargfrede. Borowski, Özil … Am Ende holte dieses Ensemble aus 34 Spielen nur 41 Punkte. Die Mannschaft gewann nur zehn Spiele, also nicht einmal ein Drittel. Werder wurde Dreizehnter, zum Relegationsplatz waren es nur fünf Zähler Abstand, zum ersten gesicherten Abstiegsplatz sieben. In der Champions League war man bereits in der Gruppenphase ausgeschieden.

Die Jahre, in denen Werder erkleckliche Zusatzeinnahmen aus der Champions League verbuchen konnte, waren vorbei. Der Klub war fortan nicht mehr in der Lage, seinen hochpreisigen Kader zu refinanzieren und musste diese „abbauen“. Was der Verlust eines Platzes an den europäischen Fleischtöpfen bedeuten kann – sofern man jedenfalls glaubt, man besäße ein Abonnement auf diesen –, hatte Jahre zuvor schon der BVB erlebt. Auf noch brutalere Weise.

Im November 2012 verließ der langjährige Manager Klaus Allofs Bremen und wechselte bezeichnenderweise zu einem Klub, dem das Schicksal von Werder nicht drohen konnte: Der VfL Wolfsburg schmiss nicht wild mit Geld um sich, agierte aber – dank Hauptsponsor VW – mit Netz und doppeltem Boden. Ein finanzieller Absturz war hier undenkbar. Es sei denn, VW würde entscheiden: „Wir machen nicht mehr in Fußball.“
 

HSV und Werder: Fast im Gleichschritt

Ein Blick auf die Platzierungen der beiden Nordrivalen Hamburger SV  und Werder in den Spielzeiten 2010/11 bis 2020/21 zeigt gewisse Parallelen auf.

 

2010/11

HSV: 8.
Werder: 13.

 

2011/12

HSV: 15.
Werder: 9.

 

2012/13

HSV: 7.
Werder: 14.

 

2013/14

HSV: 16.
Werder: 12.

 

2014/15

HSV: 16.
Werder: 10.

 

2015/16

HSV: 10.
Werder: 13.

 

2016/17

HSV: 14.
Werder 8.

 

2017/18

HSV: 17.
Werder: 11.

 

2018/19:

HSV: 2.Liga
Werder: 8.

 

2019/20

HSV: 2. Liga
Werder: 16.

 

2020/21

HSV: 2. Liga
Werder: 17.

 

In der Regel beendete der HSV und Werder die Saison in der unteren Hälfte der Tabelle. Ein siebter oder achter Platz waren Ausreißer nach oben, aber nie ein Indiz für eine bevorstehende Trendwende.
 

„Survival-Fußball“ oder pro-aktiv ?

Man könnte sagen: Gemessen an dem des HSV kam Werders Abstieg mit Verspätung. Das Zwischenhoch in der Saison 2018/19 hatte wesentlich mit Max Kruse zu tun, der den Klub aber im Sommer 2019 verließ. Als zu Beginn der letzten Saison auch noch Davy Klaassen ging, war Werder ein Abstiegskandidat. Aus dem besseren Fußball, den Florian Kohfeldt versprochen hatte, wurde nichts. Genauer: Zunächst schon, aber dann gestattete der Kader dies immer weniger. Wobei wir nicht wissen, was passiert wäre, wenn Kohfeldt in der letzten Saison antizyklisch reagiert hätte. Anstatt die Kaderprobleme mit einer Defensivstrategie zu beantworten, mit häufig unansehnlichem „Survival-Fußball“: mutig schon vorne anpacken.

So aber geriet die Mannschaft in einen Zustand, in dem sie zu einem pro-aktiven Spiel nicht mehr in der Lage war. Nach dem Sieg im Nachholspiel gegen Arminia Bielefeld schien Werder fast gerettet. Der Abstand zum Relegationsplatz betrug elf Punkte – ein gutes Gefühl hatte ich trotzdem nicht. Der Vorsprung fühlte sich irgendwie falsch an. Abgesehen von den Toren hatte Bielefeld alle Daten auf seiner Seite. 59 Prozent Ballbesitz; und die Arminia ist keine Ballbesitzmannschaft. 26 Torschüsse, Werder kam nur auf fünf.

Aber zugleich hoffte man, dass Werder das Restprogramm schon irgendwie schaukeln werde. Doch Kohfeldts Mannschaft geriet nun in eine Lage, in der sie mehr machen musste, als nur das Spiel zu überleben – mit einem Punkt oder mit etwas Glück vielleicht sogar dreien.

Man kann sich vorstellen, wie der Trainer angesichts seines Kaders hin- und her schwankte. „Wann reiße ich taktisch und spielphilosophisch das Ruder in eine andere Richtung? Wie viel Zeit benötigt die Mannschaft, um ein neues Spiel zu spielen? Und: Bringt dies noch etwas in der verbleibenden Zeit? Oder bin ich bei elf Punkten Vorsprung gut beraten, wenn ich an meiner Eichhörnchen-Strategie festhalte?“ (Werder gewann nur sieben Spiele, spielte aber zehnmal unentschieden. Mehr Remis verbuchten nur Union Berlin, Frankfurt und die Hertha.) Die Zeit rann dahin. Werders Vorsprung ebenfalls.

Im Nachhinein könnte man sagen: Bremen war zu wenig pro-aktiv. Aber wie hätte unser Urteil gelautet, wenn ein taktischer und spielphilosophischer Kurswechsel vollends in die Hose gegangen wäre? „Elf Punkte Vorsprung – und dann begeht Kohfeldt unnötig Harakiri. War nicht schön, was Werder bot. Aber es sicherte der Mannschaft einen Abstand zu den Abstiegsplätzen.“

Als Bremen am 32. Spieltag gegen Leverkusen ein torloses Remis gelang, mit 37 Prozent Ballbesitz und einem starken Keeper Jiri Pavlenka, konstatierte der Kicker: „Tendenz passt.“ Ein tapferer Vortrag gegen Leipzig, ein 0:0 gegen Leverkusen – das Thema einer Entlassung Kohfeldts war auch für die Medien vom Tisch. Und dann kam Augsburg …
 

Zwei Wege, zwei Abstiege

Frank Hellmann und Jan-Christian Müller schrieben in der Frankfurter Rundschau über den Niedergang in Hamburg und Bremen: „An der Elbe wollten sie mit allen Mitteln die erfolgreiche Vergangenheit wiederbeleben, an der Weser wollten sie mit aller Ruhe zu alter Stärke zurückfinden. Die einen wechselten zu schnell die Funktionsträger aus, die anderen holten vielleicht zu wenig Hilfe von außen dazu.“

Der HSV wollte mit aller Macht und auf dem schnellsten Wege zurück in die 1. Liga und verbrannte dabei viel Geld. Unterschiedliche Trainer verfolgten unterschiedliche Spielphilosophien und holten unterschiedliche Spielertypen. Daniel Thioune war zum Start der Saison 2020/21 der 25. Trainer seit Oktober 2001 …

Ein Ergebnis ständiger Trainerwechsel sind aufgeblähte Kader, die zu keiner Spielphilosophie richtig passen und sich fußballerisch nicht weiterentwickeln können. Trainer A benötigt die Spieler U, V und W, sein Nachfolger Trainer B kann mit diesen wenig anfangen, weshalb nun die Spieler X, Y und Z geholt werden. Und so weiter und so fort. Wird der Verein die Spieler U, V und W nicht los, wandern sie auf die Tribüne – als teure, aber „nutzlose“ Immobilien. Wie leerstehende Wohnungen, die keine Miete einbringen, aber Betriebskosten verursachen. Eine Verzahnung mit der Nachwuchsarbeit kann so auch nicht entstehen. Dem einen Trainer liefert die Ausbildungsphilosophie des Klubs die Spieler, die er für seinen Plan braucht, dem nächsten nicht. Und kaum ein Trainer, der weiß, dass vom ersten Tag an nur Ergebnisse zählen, bringt den Mut auf, junge Spieler einzusetzen. In der Regel ignoriert er die Arbeit der Nachwuchsabteilung und zählt zu seinen Aufgaben nicht die Weiterentwicklung junger Talente.

In den letzten Jahren war nur schwer zu erklären, wofür der HSV auf dem Rasen stand. Mitte März 2018 wurde Christian Titz Cheftrainer, der zuvor die U17, U19 und U23 des HSV trainiert hatte. Titz war maßgeblich an der Entwicklung des HSV-Campus beteiligt gewesen und analysierte treffend: „Das große Problem beim HSV in den letzten Jahren war, dass sich ständig die Trainer verändert haben – und die Durchlässigkeit von Nachwuchs zu Profis nicht durchgesetzt wurde. Ein Trainer wollte mit Ball spielen, der nächste brauchte Umschaltspieler. So entsteht ein unausgeglichener Kader, und man läuft irgendwann in ein Etatproblem hinein.“ Aber die Verantwortlichen hatten auch dieses Mal keine Nerven. Im Oktober 2018 wurde Titz gefeuert – den in die 2. Bundesliga abgestiegenen HSV trennten zu diesem Zeitpunkt zwei Punkte vom Platz eins. Für Christian Titz kam Hannes Wolf, der am Ende der Saison freigestellt wurde, nachdem die Mannschaft das Saisonziel Wiederaufstieg verfehlt hatte.
 

Anspruch und Realität

Wie schwer sich Traditionsvereine damit tun, in einer sich verändernden Fußballlandschaft die richtige Identität und Strategie zu finden, lässt sich auch am Beispiel von Preußen Münster beobachten. Das Gründungsmitglied der Bundesliga träumt seit 30 Jahren von der Rückkehr in die 2. Liga; zuvor hatte man gut 25 Jahre von der Rückkehr in die 1. Liga geträumt. Man versuchte es mit dem Einsatz von Kapital, scheiterte aber damit. Wenn auch nur knapp. Das Problem war nun: Die Preise für diese Politik stiegen, während den Preußen das Geld ausging. Gleichzeitig hatte man mit anderen Klubs zu tun, die zwar das Rattenrennen finanziell nicht mitmachten, aber strukturell deutlich besser aufgestellt waren.

Kurzum: Die einen besaßen mehr Geld (oder empfanden das Anhäufen von Schulden nicht als Problem), die anderen bessere Strukturen und mehr sportliche Kompetenz. So wurden die Preußen in die Zange genommen. Das Ergebnis: Abstieg in die Regionalliga. Schon in den letzten beiden Jahren in der 3. Liga wurde an einem Fundament für einen anderen Weg gearbeitet. Die 2. Mannschaft spielt nun in der Oberliga, U19 und U17 spielen traditionell in der Bundesliga. Jüngst lobte Oliver Ruhnert, Manager von Union Berlin, die gute Nachwuchsarbeit der Preußen: „Preußen Münster ist viel besser als viele NLZ-Klubs.“ Vielleicht auch, weil man sich nicht sklavisch an irgendwelche Vorgaben von oben hält, sondern einen eigenen Weg verfolgt. Aber: Preußen Münster nur ein „Ausbildungsverein“? Das will der Preußen-Fan nach wie vor nicht hören. Auch wenn eine Reihe von „Ausbildungsvereinen“ längst an den Preußen vorbeigeeilt sind – dank einer Philosophie und nachhaltiger Konzepte.
 

„Ausbildungsverein“ HSV?

Ähnlich gestaltet sich das auch beim viel größeren Traditionsklub Hamburger SV. Für dessen letzten Cheftrainer Horst Hrubesch ist der weitere Weg der „Rothosen“ klar: „Der HSV wird auf kurze Distanz sicherlich nicht in der Lage sein, Topspieler zu kaufen. Die zu bezahlen wird schwierig. Es ist ein guter Weg, eigene Spieler aus dem Nachwuchs in die Profi-Mannschaft zu bringen.“ Hrubesch nennt den HSV einen „Ausbildungsverein“. Der Hamburger SV, Repräsentationsverein der zweitgrößten Stadt Deutschlands, der Verein von Uwe Seeler, sechsmaliger Deutscher Meister, je einmal Sieger im Europapokal der Pokalsieger und Europapokal der Landesmeister, 99 Spielzeiten in Folge nicht abstiegen (also erstklassig), Vierter in der „ewigen Bundesligatabelle“ nur ein „Ausbildungsverein“? So was wie Mainz, wie Freiburg? Ja, doch!

Aber ist man sich auch darüber im Klaren, was dieser Weg bedeutet? Robin Dutt, der von 2007 bis 2011 den SC Freiburg trainierte, erzählte vor einiger Zeit im Interview mit Spox.com:„Wenn andere Klubs lobend über Freiburg sprechen, dann wollen sie das Freiburger Ergebnis. Sie wollen aber nicht den Weg gehen, um dorthin zu gelangen. Dieses Ergebnis ist nämlich nicht vom Himmel gefallen, der Grundstein dafür wurde vor langer Zeit gelegt. Man hat eine Kultur aufgebaut, die auch die Fans mitnimmt, weil sie die Arbeit dort mittragen. Das an anderen Standorten nachzubauen, dieser Zug ist für die meisten Klubs abgefahren. Das ginge nur, wenn man Verantwortliche hat, die die Widerstände der Öffentlichkeit überwinden können – und zwar nicht über ein paar Spieltage hinweg, sondern über zwei, drei Jahre. An vielen Standorten kann der Druck von Fans und Öffentlichkeit jedoch so brutal werden, dass es beinahe einer Ausweglosigkeit gleichkommt. (…) Ich glaube, dass man einfach nicht mehr druckresistent ist und seine eigene Überzeugung schneller über Bord schmeißt. Wenn man Gefahr läuft, Ziele kurzfristig kippen zu müssen und der öffentliche Druck zu groß wird, gibt es mittlerweile deutlich weniger Menschen, die sich in den Wind stellen und sagen: Das hier ist unser Konzept und das ziehen wir auch durch. (…) Es geht darum, dass man die Fehler analysiert, die man im vorherigen Zyklus gemacht hat, um im nächsten Zyklus besser zu sein. Und der geht über mindestens zwei, drei Jahre. Diese Zyklen werden kaum noch irgendwo gelebt. Deshalb ist ein Verein wie der SC Freiburg so erfolgreich, da ist das gelebte Kultur. Wenn sie absteigen, bleibt alles genauso bestehen. Man setzt sich zusammen, analysiert die Fehler und packt es wieder an. Die Mehrzahl der Vereine setzt aber lieber den Trainer vor die Tür, es kommt der nächste und der macht dann halt andere Fehler. Der Fußball ist zu einem Managerspiel geworden.“
 

Zurück nach Bremen

Da Werder selbst in glorreichen Jahren ein bisschen ein „Underdog“ war, viel stärker als der BVB, der die Bremer Mitte der 1990er-Jahre und in der Saison 2010/11 als Bayern-Herausforderer ablöste, sollte es dem Verein gar nicht so schwer fallen, sich neu zu definieren.

Stopp! Muss sich der Klub überhaupt neu definieren? Der HSV hat seit der Uefa-Pokal-Saison 2008/09 17 Trainer verschlissen, wenn man die kurzen Engagements von Knäbel und Hrubesch nicht mitzählt. Bei Werder waren es fünf. Chaos und Orientierungslosigkeit waren in Hamburg größer als in Bremen. Während in Hamburg nichts so richtig zu greifen war, gab es in Bremen wenigstens die „Werder-Familie“ und ein gewisses Maß an Kontinuität. Auch war bei Werder eine Philosophie zu erkennen – nur mit der Umsetzung haperte es.

Die Nachwuchsarbeit hat bei Werder immer eine große Rolle gespielt, Werder war der erste Klub mit einem Jugendinternat. Diesbezüglich muss man sich nicht neu erfinden. Aber in den Champions-League-Jahren litt die Durchlässigkeit im Klub. Klaus Allofs: „Wenn du Champions League spielst, dann überlegst du dir genauer als vorher, ob ein junger Spieler die Qualität der Mannschaft steigert oder nicht.“ Cordt Schnibben 2014 im Spiegel: „In den Jahren des Erfolgs schauten Allofs und Schaaf auf der Suche nach Talenten lieber in die weite Welt als auf die Nebenplätze des Stadions.“ (Wer glaubt, dass es in der „Werder-Familie“ immer nur harmonisch zuging, sollte diesen Artikel lesen.) Max Kruse durfte Im Sommer 2009 ablösefrei zum FC St. Pauli wechseln – nach 68 Spielen für Werders „Zweite“ und 28 Minuten für Werders „Erste“. Aber das geschah noch in der Ära Allofs.

Bei Werder hatte man in den letzten Jahren den Eindruck, man wolle einen bescheidenen Status quo primär verwalten – in der vagen Hoffnung auf bessere Zeiten. Wenn nicht in dieser Saison, dann vielleicht in der nächsten. Oder übernächsten. Aber Verwalten reicht selten aus, um auch nur den Status quo zu bewahren.

Allerdings: Im Sommer 2020 war Werders finanzielle Situation dramatisch, was den Spielraum für eine Weiterentwicklung extrem einengte. Frank Baumann: „Wir konnten exakt null Euro Ablöse ausgeben und haben damit sechs neue Spieler geholt. Diese Sechs verdienen zusammen weniger als ein einzelner Spieler von denen, die wir abgegeben haben. Wir haben das Gehaltsgefüge deutlich reduziert.“ Hätte Werder auf diesen extremen Sparkurs verzichtet, wäre „der Preis gewesen, dass es Werder jetzt nicht mehr geben würde. Ein Abstieg ist dramatisch, aber nicht das Ende. Wenn wir irgendwann die Rechnungen nicht zahlen können, dann ist das das Ende. Und das wäre passiert, hätten wir einen Neuen geholt.“

Wenn ich mir anschaue, wie Baumann und Co. den neuen Trainer aussuchen, erfolgt dies mit allergrößter Sorgfalt. Baumann: „Wie passt der Trainer zu unserer Spielidee? Wie sind die Ergebnisse im Vergleich zu den finanziellen Möglichkeiten? Wie waren die Ergebnisse im Vergleich zu den Leistungen?“ Werders aus 35 Punkten bestehendes Anforderungsprofil signalisiert mir, dass man bei Werder eine klare Vorstellung vom neuen Trainer hat. Das kann man nicht von allen Klubs behaupten. Gerade Topklubs neigen dazu, den Trainer vornehmlich nach seiner Prominenz auszusuchen. Der BVB verpflichtete Thomas Tuchel – und war überrascht, dass Tuchel tatsächlich Tuchel war. Ähnlich lief es mit Lucien Favre. Und die Bayern? Holten 1995 Otto Rehhagel. Das Ergebnis ist bekannt. Dass Rehhagel bei den Bayern nicht reüssieren würde, konnte man vorher wissen.

Laut Frank Hellmann bedürfen Nachwuchsarbeit und Scouting bei Werder Bremen gleichwohl einer starken Überarbeitung. In welchem Ausmaß dies stimmt, kann ich nicht beurteilen. Aber wenn es zutrifft, was ich auf der Homepage des Vereins zum Thema Nachwuchs lese, und dies ist durchdachter als bei vielen anderen Vereinen, muss sich der Verein hier nicht neu erfinden. Besser werden? Sicherlich.

Werder benötigt keine grundsätzlich neue, andere Philosophie. Es geht darum zu schauen: Wo waren wir nicht gut, wo müssen wir nachbessern? Es geht um Anpassung an die Verhältnisse und Weiterentwicklung. Ein Abstieg muss keine Katastrophe sein.

Mittlerweile ist Marco Bode als Mitglied und Vorsitzender des Aufsichtsrats zurückgetreten – wohl auch, weil er mürbe von den Attacken war. Jan Christian Müller kommentiert in der Frankfurter Rundschau: „Wahrscheinlich wird man in Bremen erst erkennen, welchen Mann man mit Bode verloren hat, wenn er nicht mehr da ist.“ Das Schlusswort übergebe ich an Max Eberl: „Themen wie Werte, Nachhaltigkeit und Haltung werden in Zukunft wieder eine große Rolle spielen. Werte und Haltung – das heißt für mich, für etwas zu stehen als Verein. Einerseits wird von uns Demut gefordert. Auf der anderen Seite sollen dann aber Köpfe rollen, um ganz kurzfristig – vielleicht – mit neuen Personen Erfolg zu haben. Die meisten verbinden mit Nachhaltigkeit eine ökologische Bedeutung. Nachhaltigkeit bedeutet für mich auch der Umgang mit Menschen. Mit Spielern, mit Trainern, mit allen Mitarbeitern.“

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