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Ein Interview mit Raphael Honigstein

 

Ralph Honigstein
Raphael Honigstein

Raphael Honigstein, Jahrgang 1973, lebt seit 22 Jahren als Journalist, Fernsehexperte und Autor in London. Er berichtet u.a. für Spiegel Online, ESPN und BT Sport über den englischen und deutschen Fußball. Honigstein ist auch Autor einer exzellenten Jürgen-Klopp-Biografie („Ich mag wenn’s kracht“), die im Herbst 2017 bei Ullstein erschien. Weitere sehr lesenswerte Veröffentlichungen aus seiner Feder: „Der vierte Stern: Wie sich der deutsche Fußball neu erfand“ (ebenfalls Ullstein) und „Harder, better, faster, stronger – Die geheime Geschichte des englischen Fußballs“ (Kiepenheuer & Witsch 2006, erweiterte Neuauflage März 2017).

Kieran Schulze-Marmeling (KSM) sprach mit Honigstein (RH) über die jüngsten Erfolge des englischen Fußballnachwuchses, der 2017 gleich drei Titel abräumte und die Fans der Engländer im Vorfeld der WM 2018 träumen lässt.

 

KSM: Nachdem sich die „goldene Generation“ um Steven Gerrard, David Beckham, Frank Lampard oder Paul Scholes nach und nach verabschiedete, kamen große Sorgen um den englischen Fußball auf. Wie ist die aktuelle Fülle an Talenten, die nach oben streben, zu erklären?

RH: Seit der Einführung des „Elite Player Performance Plans“ (EPPP) im Jahr 2011 hat sich die Qualität der Nachwuchsspieler stetig verbessert. Der Plan erleichterte vor allem den größeren Klubs die gezielte Förderung von Talenten und öffnet auch die Tür für Spiele der Nachwuchsmannschaften gegen professionelle Teams der unteren Ligen, zum Beispiel in der Checker Trade Trophy. Besonders bei Manchester City und Tottenham werden Riesensummen in die Nachwuchsförderung gesteckt.
 

„Auch in Sachen Persönlichkeitsentwicklung und schulische Ausbildung gibt es weiterhin Defizite.“


KSM: Hat es konkrete strukturelle Veränderungen in der Nachwuchsarbeit Englands gegeben, die zum momentanen Erfolg geführt haben?

RH: Abgesehen von den strukturellen Veränderungen, die (bei den Spitzenklubs) nach und nach greifen, spielen auch spezielle Faktoren eine Rolle. Bei Tottenham, die gerade eine ganze Menge guter neuer Spieler in die Liga bringen, ist mit Mauricio Pochettino ein überzeugter Jugendförderer Trainer und dazu das Geld für größere Transfers etwas knapp. Die Spurs bauen gerade ein neues Stadion.

KSM: Inwiefern hat der Zertifizierungsprozess der Akademien zum Fortschritt und der aktuellen Entwicklung beigetragen? Worauf wird in der Ausbildung besonders Wert gelegt?

RH: Das kann ich im einzelnen schwer beurteilen, aber grundsätzlich wirken sich objektive Standards immer positiv aus. Der Schwerpunkt in der Ausbildung hat sich, ähnlich wie in Deutschland, in Richtung Technik verschoben. Mein Eindruck ist jedoch, dass in taktischer Hinsicht auf der Insel noch deutlich weniger gemacht wird. Auch in Sachen Persönlichkeitsentwicklung und schulische Ausbildung gibt es weiterhin Defizite.

KSM: Was hat es mit dem Konzept der England-DNA auf sich?

RH: Ich bin mir da nicht so sicher. Die England-DNA beinhaltet eine Reihe von spielerischen und taktischen Grundsätzen, die alle 24 Nationalteams beachten sollen. Ob das tatsächlich so umgesetzt wird…

KSM: Wie würden Sie die englische Nachwuchsarbeit im Vergleich mit der Ausbildung anderer Länder beschreiben? Gibt es einen konkreten Wiedererkennungswert?

RH: Ich bin kein Experte auf dem Gebiet, habe aber den Eindruck, dass sich die tagtägliche Arbeit nicht groß unterscheidet. Die Probleme bzw. Herausforderungen sind eher strukturell bedingt. Es gibt keine eignen Partnerschaften mit Schulen für die Oberstufe, keine zweite Mannschaften im geregelten Spielbetrieb, zu früh zu viel Geld, und schlichtweg weniger Chancen für Jugendliche, in die erste Elf vorzustoßen.

KSM: Die finanziellen Möglichkeiten englischer Profiteams scheinen schier unbegrenzt. Blockiert dies die Integration von Talenten in den Profibereich?

RH: Ohne Frage.
 

„Doch dann kommen wahrscheinlich die Deutschen – und damit das Ende.“


KSM: Die A-Nationalmannschaft qualifizierte sich souverän für die WM 2018 in Russland, die U17 scheitert bei der Europameisterschaft erst im Finale an Spanien und die U20 sowie die U19 holten bei der WM bzw. EM sogar den Titel. Warum läuft es momentan so gut für die englischen Teams?

RH: Die Frage ist vielleicht eher, warum es für englische Talente in der Vergangenheit so schlecht lief. Eine Fußballnation wie England sollte zwangsläufig sehr gute Jugendmannschaften produzieren, wenn man die finanziellen Möglichkeiten und Anzahl der Spieler und Vereine berücksichtigt.

KSM: Kick and Rush, harte Tacklings, wenig Ästhetik: Es gibt viele Klischees über den englischen Fußball. Ist der englische Fußball dabei, sich neu zu erfinden oder haben diese traditionellen Charakteristika noch bestand?

RH: Die Klischees haben auf absolutem Topniveau nur noch rudimentär Bestand. City, United, Liverpool, Arsenal oder auch Chelsea spielen eigentlich keinen „englischen Fußball“ mehr. Selbst die Regelauslegung passt sich allmählich den kontinentalen Gepflogenheiten an.

KSM: Wie würden Sie die Spielweise der „Three Lions“ beschreiben? Warum wird es sich lohnen, bei der Weltmeisterschaft den Fernseher einzuschalten, wenn England spielt?

RH: Nationaltrainer Gareth Southgate bastelt noch an der Taktik. Gerade gegen kleinere, defensivere Mannschaften tut sich sein England schwer; deswegen macht es vielleicht mehr Sinn, erst zum dritten Spiel, gegen Belgien, einzuschalten. Individuelle Qualität ist gerade im Sturm vorhanden.

KSM: Die Ernennung von Gareth Southgate zum Trainer der Nationalmannschaft war nicht unumstritten. Welche Vorteile hat es, wenn der Trainer aus dem eigenen Verband hervorgeht?

RH: Das hat sicher Vorteile für die interne Kommunikation und für Abläufe etc., aber im Vergleich mit den ausländischen Superstars, die in der Premier League trainieren, fällt Southgate zwangsläufig ab. Er hat naturgemäß einen schweren Stand.

KSM: Wer ist der größte Star der Mannschaft und welcher Spieler, der noch weniger im Fokus steht, könnte bei der Weltmeisterschaft positiv überraschen?

RH: Harry Kane ist der größte Star. Und Raheem Sterling könnte der internationale Durchbruch gelingen.

KSM: Was trauen Sie der englischen Mannschaft zu?

RH: Das Viertelfinale ist auf jeden Fall machbar. Doch dann kommen wahrscheinlich die Deutschen – und damit das Ende.

 

Weitere Literatur zum Thema:

Kieran Schulze-Marmeling: Endlich erfolgreich? Aus der neustrukturierten Nachwuchsarbeit soll schnellstmöglich der erste Titel seit 1966 resultieren. In: Fußballtraining. Die Trainerzeitschrift des Deutschen Fußball-Bundes, Ausgabe 1 + 2 /2018, Philippka-Sportverlag, Münster.

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