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EM-Aus, Jogi Löw verabschiedet. Jetzt kommt Hansi Flick. Wird nun alles besser? Eine Analyse über die Situation der Nationalmannschaft.

 

Jogi Löw England Euro 2020
Das war's. Die Ära Löw ist mit der 0:2-Niederlage gegen England zu Ende gegangen. (Foto: imago images)

 

Jetzt ist er weg. Endlich. Die Fußballnation atmet auf. In den nächsten Tagen noch einige Tritte hinterher, das war es dann. 2022 wird Deutschland Weltmeister! Ganz bestimmt!

Warum? Weil wir ein großartiges Spielerpotenzial haben. Nur der Trainer war schlecht.

Hansi Flick wird nun die dringend notwendige Verjüngung einleiten. Wollte Löw auch – mit Blick auf Katar 2022. Die WM findet im Winter statt. Neuer ist dann 37, Hummels 34, Müller 33, Kroos 32, Gündogan ebenfalls, Halstenberg 31, Volland 30.

Aber wollten WIR das? Nicht auf Kosten von Ergebnissen! Als Löw Müller, Hummels und Boateng aussortierte, war das Geschrei groß. Das „Aus“ bei der EM ist auch dem Löw’schen Zickzack-Kurs geschuldet. Den aber einige von uns mitfuhren.

Hansi Flick ist nicht zu beneiden. Nach der WM 2018 befand sich die Nationalmannschaft sofort wieder im Pflichtspielmodus. Ergebnisse mussten her. Das ist jetzt nicht viel anders, nur dass Löw noch zusätzlich um sein „Überleben“ kämpfen musste. Bestreite ich die WM-Qualifikation noch mit Hummels, Müller und Co.? Wohl wissend, dass sie mir im November / Dezember 2022 nicht mehr helfen können? Für Flick wäre es besser gewesen, wenn Löw sein Umbau- bzw. Verjüngungsprojekt konsequent durchgezockt hätte. Ohne Rücksicht auf die Ergebnisse. Vielleicht sollte Flick das bezüglich der kommenden WM beherzigen. Und sich auf die EM 2024 fokussieren.

Wobei: Turniere sind keine Meisterschaften. Ansonsten hätte Griechenland 2004 die EM nicht gewonnen. Auch gegen England hätte das Spiel anders ausgehen können. Es war ja nicht schlecht. Hätten Werner, Havertz, Müller getroffen … Der Sieg der Engländer war unterm Strich verdient. Dennoch wird am Tag danach das Geschehene zu stark vom Ergebnis her diskutiert. By the way: Auf Southgates Bank saßen Rashford, Sancho, Fodan, Bellingham und Mount. Das dokumentiert unsere Probleme ganz gut. Mit Sancho und Rashford hätten „wir“ gewonnen.
 

Sechsmal im Halbfinale

In der Ära Löw erreichte die DFB-Elf bei acht großen Turnieren sechsmal das Halbfinale. Sechsmal in Folge. Das gelang keinem anderen Bundestrainer. Und auch keiner Nationalelf eines anderen Landes. Zweimal stand man im Finale. 2014 wurde Deutschland Weltmeister, 2006 und 2010 WM-Dritter, 2008 Vize-Europameister.

Bis dahin waren die Jahre 1966 bis 1974 die erfolgreichsten gewesen: Viermal im Halbfinale eines großen Turniers, Europameister 1972, Weltmeister 1974. Trainer war damals Helmut Schön, beim gemeinen Fußballvolk ähnlich beliebt wie Jogi Löw. Ein „Schöngeist“, der etwas weniger „deutsch“ spielen ließ.

Dass die DFB-Elf von 2006 bis 2016 sechsmal mindestens das Halbfinale erreichte war nicht selbstverständlich. Denn sooo großartig war das Spielerpotenzial auch nicht. Zumindest Frankreich und Spanien hatten in diesem Zeitraum mehr zu bieten. Die Mannschaft von 2014 war wunderbar. Aber wenn man sich den damaligen Kader in seiner Tiefe anschaut … Das hätte auch daneben gehen können. Beispielsweise wenn Neuer, Khedira und Schweinsteiger, die angeschlagen ins Turnier gingen, komplett ausgefallen wären. Klose war damals schon 36 – und immer noch unverzichtbar.

Ja, vermutlich hätte Löw nach der EM 2016 abtreten sollen. Nicht 2018, sondern 2016. Denn beim Turnier in Frankreich waren die Probleme bereits evident. Gleichzeitig war es das letzte Turnier, bei dem man die DFB-Elf zu den Titelkandidaten zählen konnte.
 

2016 ist 2021

In dem Buch „Ausgespielt? Die Krise des deutschen Fußballs“ schrieb ich über die EM 2016:

„Die Mannschaft, mit der Löw nach Frankreich reiste, war eine etwas andere als 2014. Wichtige Säulen wie Lahm und Klose waren nicht mehr dabei. Dafür waren acht neue Spieler an Bord. Tatsächlich überraschte Löws Elf bis zum Halbfinale eher positiv. Angesichts der Ausfälle und einiger angeschlagener und überstrapazierter Spieler war sie nicht zwingend als Anwärter auf den Titel angetreten. Doch nach fünf Spielen hatte die Elf erst ein Gegentor kassiert – gegen Italien vom Elfmeterpunkt. Wer in sechs Spielen plus einer Verlängerung nur ein Tor aus dem Spiel heraus kassiert (und zwei durch Elfmeter, bei denen das vorausgegangene Handspiel keine echte Torchance verhinderte) und zudem über weite Strecken das Spiel bestimmt, hat taktisch ziemlich viel richtig gemacht.

Aber im direkten Vergleich mit Frankreich musste man auch einräumen: Deutschland hatte wahnsinnig tolle Kombinationsspieler, die sich gerne in den Halbräumen bewegten und wunderbaren Fußball spielten, aber sie ähnelten sich zu sehr. Das erschwerte das Spiel im letzten Drittel. Und dies zeigte sich bereits in der Qualifikation zur EM 2016: Gegen die sehr defensiv auftretende Republik Irland reichte es in 180 Minuten nur zu einem Tor. Und in der Gesamtabrechnung hatte das DFB-Team nur fünf Tore mehr geschossen als die wenig torhungrigen Iren.

(…)

Wenn bei der EM 2016 der Gegner tief und eng stand und die Deutschen das Spiel verlagerten, waren die Außenverteidiger die Zielspieler, hochstehend und breit an den Linien. Diese waren ausgebildete ‚Sechser‘ und keine Dribbler. Damit entfiel schon mal die Option des offensiven Eins-gegen-eins. Jonas Hector war defensiv stark, in der Offensive konnte er nur flanken. Und seine Flanken waren schlecht. Von 33 kamen nur zwei an. (Wobei Flanken als Mittel auch überschätzt werden. Österreich schlug in der Vorrunde über 50 Flanken, ohne ein einziges Tor zu erzielen. Gerade gegen tief stehende Verteidigungen hofft man beim Flanken auf Zufall und Glück.) Und Joshua Kimmich beendete nur drei seiner neun Dribblings erfolgreich. Hector und Kimmich sind keine gelernten Außenverteidiger. Beim FC Bayern standen in der Saison 2015/16 Spieler wie Costa, Ribéry, Robben oder Coman an den Außenlinien, und die Außenverteidiger füllten stattdessen das Zentrum. Bei der DFB-Elf entfiel diese Option, da auf den offensiven Flügelpositionen zentrumsorientierte Spieler spielten, weshalb Hector und Kimmich Breite geben mussten. Sie konnten nicht so eingesetzt werden wie Lahm oder Alaba bei den Guardiola-Bayern.

Der FC Bayern versucht immer, jeden deutschen Spieler, der seinen Ansprüchen gerecht werden kann, zu verpflichten. Mit deutschen Spielern waren beim Rekordmeister in der Saison 2015/16 folgende Positionen und Spielertypen abgedeckt: Torwart: Neuer; Innenverteidigung: Boateng, Hummels, Badstuber; „Sechser“: Kimmich; Mittelfeld offensiv: Müller, Götze. Was fehlte, waren Außenverteidiger (abgesehen von Lahm), Dribbler (vier Spieler, alle anderer Nationalität), Stürmer. Schon 2016 war also deutlich, woran es dem deutschen Fußball mangelte, wo es in der Ausbildung haperte: Es fehlten klassische Außenverteidiger, ‚Neuner‘, Eins-gegen-eins-Spezialisten. Der Fokus lag einige Jahre extrem auf den Zentrumspositionen (und auf kurzen Ballhaltezeiten, ‚One touch‘-Fußball). Hier existierte eher ein Überangebot. Wenn man eine Sache fördert, bei der man vorher Defizite hatte, werden andere Dinge auch mal zu stark vernachlässigt.“
 

2018 war nicht 2008

Zu Löws größten Fehlern gehörte, dass er damals nicht sagte: „Es ist vorbei! Andere Länder haben nicht nur aufgeholt, sondern sind an uns vorbeigezogen. Wir werden 2018 nicht Weltmeister werden, auch nicht 2022. Und schon gar nicht 2020 Europameister. Okay. Wir spielen Turniere. Keine Meisterschaften. Da gewinnt nicht immer der Beste. Und wenn wir ehrlich sind: 2014 haben wir auch nicht nur tolle Spiele abgeliefert. Gegen Algerien, Frankreich, Argentinien – das hätte auch daneben gehen können. Und gegen Ghana lagen wir 1:2 zurück …“

Ich habe diese dicke Hose des DFB vor der WM 2018 nie verstanden. Dieses Gerede vom nächsten Titel war furchtbar. Aber nicht wenige haben es mitgemacht.

Anschließend war Löw besessen von der Idee, den großen Umbau zu schaffen. So wie nach der EM 2008. Und als Wiedergutmachung für 2018. Aber 2008 standen ihm dafür Spieler zur Verfügung, von denen klar war, dass sie besser waren oder werden würden als ihre Vorgänger. Spieler, die eine andere – bessere!!! – Ausbildung genossen hatten als ihre Vorgänger. Wir konnten das damals bis in den Amateurfußball hinein beobachten. Die Reform der Ausbildung lieferte uns eine ganz neue Qualität von Seniorenspielern. Ich erinnere mich noch an ein Spiel von Preußen Münster gegen die U23 des VfB Stuttgart aus der Saison 2013/14. Die Preußen hatten eine ziemlich alte und erfahrene Truppe. Aber während der 90 Minuten hatte man das Gefühl: Die Jungs vom VfB lachen die alten Hasen aus. Nicht nur im Umgang mit dem Ball, auch wie sie sich taktisch verhielten, waren sie den Preußen haushoch überlegen. Wir hatten das sogar im Amateurverein. Die starken Jahrgänge 1989 bis 1991 amüsierten sich über unsere „Erste“ und wie diese Fußball spielte.

Das Vorhaben, eine neue große Mannschaft aufzubauen, ist Löw nicht gelungen. Konnte vielleicht auch nicht gelingen, weil er hier von einem Spielerpotenzial abhängig war, das andere bereitstellten. Auch Sepp Herberger und Helmut Schön gelang das nicht. Herberger gelang es nicht, weil die Bundesliga zu spät kam. Alex Ferguson gelang es. Aber Ferguson trainierte einen Verein.
 

Perspektiven

Aber wir sind doch U21-Europameister? Man sollte die Aussagekraft von U-Europameisterschaften nicht überschätzen. Frankreich stand das letzte Mal 2002 im Finale einer U21-Europameristerschaft. Trotzdem hätten die Franzosen zur WM 2018 gleich zwei titelfähige Truppen schicken können. Die DFB-Elf gewann 2021 auch, weil sie eine gute Turniermannschaft war, die über sich hinauswuchs. Auch profitierte man davon, dass einige andere Teilnehmer ihre besten U21-Spieler für die A-Nationalmannschaft bzw. die EM schonten. So auch Finalgegner Portugal. Aber wie viele Spieler des Europameisters werden es in die A-Nationalelf schaffen?

Von der DFB-Elf, die 2017 U21-Europameister wurde, stand nur Serge Gnabry im Kader für die EM 2021. Allerdings spielten damals einige U21-Spieler den Confederations Cup, den die DFB-Elf gewann. Kimmich und Ginter waren da aber schon seit 2016 bzw. 2014 A-Nationalspieler. Andere waren keine „echten“ U21. Die einzigen „echten“ U21, die es aus dieser Mannschaft in den Kader der EM 2021 schafften, waren Süle, Goretzka und Werner. Richtig großes Potenzial attestiere ich von diesen nur Goretzka. Aus der Mannschaft, die 2014 U19-Europameister wurde, war bei der EM nur Joshua Kimmich dabei. Zum besten Spieler des Turniers wurde damals Davie Selke gewählt … Bei der U17 stand Deutschland letztmalig 2015 im EM-Finale. Keiner der beim 1:4 gegen Frankreich aufgelaufenen Spieler wurde A-Nationalspieler. Bekannteste Namen waren Felix Passlack und Johannes Eggestein.

So schlecht, wie es manchmal erzählt wird, steht es um den Nachwuchs aber auch nicht. Immerhin gibt es Spieler wie Florian Wirtz und Jamal Musiala (beide 18). Letzteren konnte Löw von der DFB-Elf überzeugen.

Trotzdem: Einige andere Länder sind besser aufgestellt. DFB und DFL haben die Probleme längst erkannt. Aber in einem Land wie Deutschland gestalten sich Reformprozesse häufig schwierig. Es dauert, bis sie auch die unterste Ebene erreicht haben.

Was jetzt richtig blöd ist: Wir müssen uns den tatsächlichen Problemen widmen. Löw war auch ein Problem, aber vermutlich nicht das größte. Ein bisschen verwaltete er Probleme, die er nicht verursacht hatte.

 

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